Über den Dächern von Chur

Schaut man von unten hinauf, erhascht man allenfalls das Fetzchen Grün eines Bäumchens. Allerdings nur, wenn man den Kopf gehörig in den Nacken legt – und wer spaziert schon dergestalt durch die Gegend. Erst mal oben angelangt, eröffnen sich einem aber Welten. Wussten Sie etwa, dass das Obertor mit einem allerliebsten Glöckchen ausgestattet ist? Oder haben Sie jemals die Lukarnen rund ums Rathaus gezählt? Nein?

Dann sind Sie vermutlich auch nicht im Besitze einer Dachterrasse.
Als sich die Familie Nydegger vor rund 19 Jahren die ersten Mal auf ihre Terrasse setzte, kam dies einer kleinen Sensation gleich. Rundherum wurden die Fenster geöffnet und man blickte äusserst skeptisch auf die junge Familie. Wozu das nun wieder gut sein sollte? Die Familie Nydegger liess sich nicht beirren und winkte den misstrauisch Schauenden munter zu.
Den Dachgarten über dem ehemaligen Stoffladen Moritzi an der Süesswinkelgasse zierten damals bloss ein paar Geranien – doch man genoss die schöne Aus- und Übersicht. Die hat sich mittlerweile verändert. Eine stattliche Sammlung von Blumentöpfen und -kistchen, woraus Sträucher, Büsche und Blumen spriessen, beleben die Terrasse. Die meisten haben Nydeggers selbst gepflanzt, einige versamten selbständig, zum Beispiel die Birke.
Es ist nach sieben Uhr abends, das Nachtessen bruzelt auf dem Grill. , sagt Frau Nydegger,  Das kommt auch dem Kaninchen der Tochter zugute, dessen Gehege auf der geräumigen Terrasse ebenfalls Platz findet.
Natürlich sitzt man auch mit Gästen oft auf dem erweiterten Balkon. Jedoch: Besuch kommt, beginnt es regelmässig zu regnen. Deshalb haben wir uns diesen Sonnenschirm gekauft.

Spezielle Atmosphäre
Manuela Meuli steigt mit ihren Gästen ebenfalls aufs Dach. Über eine steile Leitertreppe und an Estrichabteilen vorbei gelangt man auf die Terrasse – und hält erst Mal den Atem an. Ein
Labyrinth von Türmchen, Zinnen, Dachfenstern und Kaminen tut sich einem auf, rundherum erblickt man weitere Dachterrassen – eine ist sogar mit einer satten Wiese begrünt – weiter hinten sieht man die Martinskirche, die Kathedrale, den Mittenberg, gegenüber den Calanda und in nächster Nähe das Glöckchen des Obertors.
, schwärmt Manuela Meuli. Ihre Wohnung im Haus zum Malteserkreuz hat sie nicht zuletzt wegen der Dachterrasse gemietet. Und deshalb die Vermieter über ein halbes Jahr lang bearbeitet.
Jetzt trifft sie sich manchmal mit dem unter ihr wohnenden Mieter auf dem Dach oder grilliert mit Gästen.
 Und ab und zu lässt sich sogar das Obertorglöckchen verlauten.

Liegeterrasse für Hotelgäste
Nicht verlauten liess sich die Mitternachtsglocke der Regulakirche an Silvester vor zwei Jahren. , erzählt Werner Vetterli,  Der Siegrist habe das Uhrwerk danach eingestellt, so dass sich die Gäste des Hotel Sternen von Glockenklang untermalt zum Neuen Jahr beglückwünschen konnten.
Das Dach der Regulakirche und der Glockenturm grenzen direkt an die – den Hotelgästen vorbehaltene – Liegeterrasse des Hotel Sternen. Hier entspannen sich die Besucher beim Vier-Uhr-Tee und geniessen die Ruhe. Vor allem Gäste mit Zimmern ohne eigenen Balkon schätzen die Terrasse, weiss Geschäftsführer Werner Vetterli. Er selber hat keine Zeit, sich im Liegestuhl auszuruhen.

Windgetriebener Wäschetrockner
Einst sorgten die sonnigen Plätzchen über den Dächern der Altstadt dafür, dass die frisch gewaschene Wäsche schnell und effizient trocknete. Mit viel Grün, bequemen Stühlen und dem obligaten Grill ausgestattet, wurden einige Dachterrassen mittlerweile zu wahren Oasen umfunktioniert. Höchstens die Stangen der Wäscheleinen erinnern noch an den ursprünglichen Zweck.
Auf einem Dach gegenüber des Sternen flattert Frischgewaschenes heftig im Wind. Schwalben umkreisen den nahen Regulakirchturm. Friedliche Stille liegt über dem Calanda.
Man müsse die Kleider schon gut festmachen, damit sie nicht fortgeweht würden, sagt Antoinette Ammann zwischen zwei Wäschestücken. Manchmal winde es fast zu stark. Deshalb haben die Ammanns einen Windschutz an der einen Seite ihrer Dachterrasse montiert. Antoinette Ammann schätzt vor allem den schönen Ausblick. Manchmal komme sie abends hoch und geniesse die Abendsonne und die Ruhe.
Hauptsächlich für die Wäsche der Mieter sei ihre Dachterrasse gedacht, bestätigt Ursula Müller, die am Regierungsplatz wohnt. Sie selbst ist ungern auf dem Dach. Sie sorgt sich um die Katzen, die über die Zinnen entschwinden könnten.

Von Katzen und Katern
Nicht so Albert Brun. Kater Kasimir und Co. haben die Terrasse vorübergehend für sich eingenommen. Dabei war sie einst Ort regen Treibens: bei schönem Wetter setzte man sich mit den Kunden ins Freiluftsitzungszimmer, traf sich zum Nachtessen um den Grill oder gab eine Party unter freiem Himmel. ein Fest stattgefunden hat, war es immer ein besonderes. Es wurde geschlemmt und geprasst, der Alkohol floss in Strömen, man hielt zotige Reden und die Frauen haben gekreischt.
Die letzten zwei Jahre blieb es allerdings still auf der Terrasse. Der Kräutergarten verwilderte, der Farn, die Rosen, der Ahorn, der Kirschbaum, die Föhre und die Birke wurden sich selbst überlassen und neben Kasimirs Kistchen harrt ein ausgedienter Christbaum der Dinge. , sagt Brun,  Immerhin wurde das überwachsene Kräuterbeet gejätet und reanimiert. Den grünen Daumen aber hätten sie vorübergehend abgegeben.

Das Schönste an der Terrasse?
Äpfel in luftiger Höhe
In Fredi Leupis Dachgarten gedeihen Tomaten, Johannisbeeren, Kräuter und sogar zwei Apfelbäume. Er hat das Haus an der Poststrasse nach eigenen Ideen von Grund auf neu gebaut. Die Momente auf der Terrasse geniesst er in vollen Zügen.  Tatsächlich. Das Rathaus und die Martinskirche erscheinen in einem ganz anderen Licht. Es ist einmal mehr überraschend, wie anders sich Bekanntes von oben präsentiert. Man möchte sich satt sehen an der bekannt unbekannten Umgebung und so viel Zeit wie möglich über den Dächern verbringen.
Anscheinend geht es nicht allen so. Die gegenüberliegende Terrasse präsentiert sich gähnend leer. Ausser einem halben Dutzend Satellitenschüsseln ist nichts zu sehen. Nichtsdestotrotz kommt zirka einmal im Jahr Leben auf, weiss Fredi Leupi. Dann nämlich, wenn die Bewohnerinnen des Hauses ihre Teppiche aufs Dach schleppen und sie entstauben.
Ursina Straub