An der Bündner Jagd kommt keiner vorbei

Die schönste Jahreszeit

Wenn jeweils am 9. September im Kanton Graubünden die Hochjagd beginnt, sind nicht nur die 5500 Jäger betroffen, welche den Tag kaum erwarten können. Für Einheimische wie für Gäste beginnt damit auch die Zeit besonderer kulinarischer Genüsse. Was gibt es Frischeres und Gesünderes als ein Reh, einen Hirsch oder eine Gämse aus einheimischer Jagd?

  Die Bündner Patentjagd dient heute nur zum kleineren Teil der Wildbret-Beschaffung, Hauptaufgabe ist die Erhaltung eines gesunden, den örtlichen Verhältnissen angepassten und natürlich strukturierten Wildbestandes. Dieser Wildbestand war und ist von vielen Seiten bedroht, der Lebensraum wird für das Wild immer kleiner und allzu lange hatte man mit einer sinnvollen Planung der Jagd zugewartet. Der Slogan "Ohne Jäger kein Wild" verblüfft zwar auf den ersten Blick, tatsächlich haben aber die Jäger einen wesentlichen Anteil daran, dass im Kanton Graubünden das Ziel geregelter Bestände bald erreicht sein wird. Immerhin werden pro Jahr auf der Hoch- und Niederjagd über 26'000 Tiere erlegt.

Traditionelle freie Patentjagd

Im Kanton Graubünden gilt - im Gegensatz zu den Revierjagd-Kantonen - nach wie vor die freie Patentjagd. Das heisst, jedermann kann sich an der Jagd beteiligen, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt werden. Nach bestandener Jagdprüfung kann man das Patent lösen, welches dann während drei Wochen im September zur freien Jagd berechtigt. Ganz so frei ist die Jagd aber heute nicht mehr, und das bei vielen hegeorientierten Unterländer Jägern verbreitete Vorurteil, die Patentjäger in den Bergen seien besonders schiessfreudig und beutegierig, trifft heute ganz bestimmt nicht mehr zu. Wohl haben im letzten Jahr die 5500 Jäger 4’274 Hirsche, 5’061 Rehe und 4'229 Gämsen erlegt, Zudem wurden 4'494 Murmeltiere und 2650 Füchse erlegt. Die Murmeltierstrecke war in der Zeit des letzten Krieges bedeutend höher (1944: 12'000 Stück). Obwohl letztes Jahr infolge schlechter Witterung ein Rückgang der Strecke um 1'700 verzeichnet wurde, erreicht sie wieder die Höhe um das Jahr 1960.

Seit 1872 wird eine Jagdstatistik geführt. Aus ihr geht auch hervor, dass es anfangs dieses Jahrhunderts in Graubünden kaum mehr Hirsche gab, die Rehbestände waren praktisch verschwunden und auch den Gämsen ging es schlecht. Mit der Schaffung von Wildschutzgebieten und Verkürzung der Jagdzeit wurden die Bestände wieder aufgebaut, bis sie in den Sechzigerjahren zu gross wurden. Auch die Bündner Patentjagd musste in den letzten zwanzig Jahren einen grossen Wandel durchmachen, ohne diesen Wandel wäre sie sogar gefährdet gewesen. Immerhin haben die Stimmberechtigten des Kantons Genf die freie Jagd ganz abgeschafft und die Regulierung der Bestände bleibt kantonalen Beamten vorbehalten. Regulierung, ja eine eigentliche Jagdplanung wurden auch im traditionsreichen Patentjagdkanton Graubünden notwendig und heute zeigt es sich, dass man auf dem richtigen Weg ist.

Anpassungen an neue Gegebenheiten sind aber immer notwendig. Im letzten Jahr war es das neue Rehbejagungskonzept, das erstmals zur Anwendung gelangte. Beim Rehwild wurde während der Hochjagd mit 4'096 Tieren die höchste Strecke erzielt und zum ersten Mal sind mehr Geissen als Böcke erlegt worden. Bei der anschliessenden Herbstjagd wurden nochmals 891 Rehe erlegt, um den Abschussplan zu erfüllen. Ueber 1200 Jägerinnen und Jäger haben sich im letzten Jahr an der Sonderjagd beteiligt.

Erstmals sind bei der Anfang April dieses Jahres in Kraft gesetzten neuen kantonalen Jagdverordnung neben dem Luchs auch der Bär und der Wolf erwähnt. Bären, Wölfe und Luchse könnten in absehbarer Zeit auch in Graubünden wieder heimisch werden. Das Hüten von Nutztieren zum Schutz vor Raubtieren bildet nach neuem Recht eine zumutbare Abwehrmassnahme. Die Regierung will aber erst dann entsprechende Weisungen erlassen, wenn die erwähnten Raubtiere effektiv in Graubünden auftreten. In der Zwischenzeit werden allfällige Schäden, die Luchs, Wolf oder Bär verursachen, den Betroffenen vollumfänglich vergütet.

Mit dem Wappentier begonnen

Das Wort Jagdplanung durfte man in den Siebzigerjahren kaum laut aussprechen, und doch wussten die meisten, dass die Wildbestände und die freie Volksjagd ohne Planung keine Zukunft haben würden. Wie aber bringt man das der Jägerschaft bei, ohne dabei politischen Selbstmord zu begehen? Man verabreicht die scheinbar bittere Pille in Portionen, zuerst dort, wo es am wenigsten weh tut. Genau das ist geschehen.

Das stolze Wappentier des Kantons Graubünden, der Steinbock, ist eigentlich geschützt. Einst in der Schweiz ganz ausgerottet, gelang die Wiederansiedelung auf nicht ganz legale Weise. Steinwild, das dem italiensichen König aus einem Park gestohlen und vorerst in den St. Galler Zoo Peter und Paul kam, wurde von dort aus wieder in den Alpen angesiedelt und konnte sich prächtig vermehren. So gut, dass im Jahre 1977 eine geplante Bejagung von vorerst 300 Tieren, ausgewählt nach Geschlecht und Alter, durch verdienstvolle ältere Jäger zum Abschuss freigegeben wurden. Eine Jagdplanung, die nur deshalb nicht auf Opposition stiess, weil das Steinwild ja ansonsten gar nicht jagdbar war.

Zehn Jahre später kam es zur Jagdplanung des Hirschwildes und 1990 auch beim Gämswild. So konnten die Bestände dieser Schalenwildarten weitgehend den örtlichen Verhältnissen angepasst und die Bestandesstruktur nach Alter und Geschlecht erhalten und verbessert werden. Damit dieses Ziel erreicht wird, erfolgt jeweils eine Sonderjagd. Wie erwähnt wurde im letzten Jahr erstmals auch das Rehwild nach einem neuen Bejagungskonzept in die Planung einbezogen, nachdem dieses in drei Regionen getestet worden ist. Auch wenn nach drei Wochen ordentlicher Hochjagd nach dem September manch ein Schuss in den Bergen zu hören ist, sind diese Sonderjagden der weitaus kleinere Teil der Bündner Hochjagd. Rund 80 Prozent der Abschusspläne werden während der ordentlichen Hochjagd erfüllt. Die Sonderjagden, auch Hegejagden genannt, beginnen je nach Region in der zweiten Novemberhälfte.

Die freie Volksjagd kann sich heute und in Zukunft behaupten, weil es gelungen ist, mit klugen Massnahmen und einem Mentalitätswandel ein taugliches Modell für die Patentjagd zu erarbeiten. Heute spricht im Kanton Graubünden niemand mehr von einem anderen Jagdsystem oder vom Planungsvogt, die Einsicht hat sich in Jäger- und in Nichtjäger-Kreisen durchgesetzt, dass der eingeschlagene Weg richtig und notwendig ist, um gesunde Wildbestände zu erhalten, an denen alle ihre Freude haben dürfen. Und freuen kann man sich in diesen Wochen ganz sicher, zumindest kulinarisch können nämlich alle an der Bündner Jagd teilhaben.
Stefan Bühler