Nachtleben in der Unteren Gasse

Es ist Freitagabend und das Leben tobt in der Unteren Gasse. Die Altstadtstrasse hat sich in den letzten Jahren vor allem im Sommer zum eigentlichen Treffpunkt entwickelt: man nippt an einem Bier, flaniert, diskutiert, schaut anderen Leuten nach. Und das Wochenende für Wochenende. Kurz vor Mitternacht ist quasi kein Durchkommen mehr. Wer sich dennoch durch die Menge drängt, dem ist Körperkontakt garantiert.

«Hier ist so absolut nichts los, dass schon fast wieder was läuft», bemerkt Pius aus Oberriet. Und beisst herzhaft in seinen Kebab. «Ich meine, was machen die Leute hier? Die stehen sich die Beine in den Bauch und warten, bis es zwölf wird! Ich finde das lächerlich.»

Mitnichten lächerlich. Die Untere Gasse ist vor allem an lauen Sommerabenden der Treffpunkt schlechthin. Wer hier niemanden kennt, ist einsam. Oder über fünfzig. Natürlich steht man nicht nur rum und wartet, bis es zwölf wird. Man trinkt Bier und diskutiert, hält nach Kollegen und Freundinnen Ausschau, zwinkert einem Vorübergehenden zu, schaut den Frauen nach. Sehr praktisch, findet das ein Gast vor dem Restaurant Helvetia: «Ich kann ausgehen, ohne dass ich abmachen müsste. Man kennt ja fast alle Leute.»

Bier bis nach Mitternacht?
Jürg Bigler siehts gleichfalls positiv: «Es ist gut, dass sich an der Unteren Gasse alles konzentriert: wenn man Kollegen sucht, schlendert man einmal hoch und runter und weiss dann, ob sie hier sind.» Und sonst? «Trinkt man Bier, schaut den Frauen auf den Hintern und in den Ausschnitt und pilgert von Bar zu Bar.» Die Polizeistunde um zwölf findet Bigler allerdings «Scheisse.» Tobias und Nic wohnen in Malans. Sie kommen in die Untere Gasse, weil hier etwas läuft. «Wir könnten natürlich auch ins Bahnhofbuffet gehen», ergänzen Seraina und Tiziana, «aber da ist ja nichts los. Auch in Landquart ist tote Hose.» So kommen sie nach Chur, um sich «vorsätzlich zu betrinken». Aber auch um zusammenzusitzen, die Leute anzuschauen und von alten Zeiten zu schwärmen. Nur: «Dass um Mitternacht alle Lokale schliessen, ist ein Witz! Wir sind für die Aufhebung der Polizeistunde. Die Anwohner müssten halt ein bisschen zurückstecken.»

Wohnen an der Ausgehmeile
Das tun sie bereits. Zum Beispiel Doris Wolf, die seit 45 Jahren an der Unteren Gasse wohnt. «Im Sommer tischen alle Lokale – begreiflicherweise – draussen auf. Es ist dann unmöglich, bei offenem Fenster zu lesen oder sich zu konzentrieren. Wenn die Gäste um Mitternacht nach Hause gehen, ist es laut, obgleich sich die Lokalbesitzer wirklich darum bemühen, für Ruhe zu sorgen.» Schlaflose Nächte hat sie deswegen aber keine – ihr Schlafzimmer grenzt an den Innenhof. Und: «Im Winter ist es angenehm. Die Vorweihnachtszeit geniesse ich». Durch den sommerlich hohen Lärmpegel kommt es jedoch zu häufigem Mieterwechsel. Ein Hausbewohner fragte sie kürzlich, wie sie das aushalte?! Er hätte sich zwar auf den Betrieb in der Gasse eingestellt, aber die Realität übertreffe nun doch seine Vorstellung …

«In einer Altstadt, die bewohnt sein soll, sollte man auch Rücksicht auf die Mieterinnen und Mieter nehmen», gibt Doris Wolf zu bedenken. Die Aufhebung der Polizeistunde könnte sie deshalb «fast nicht akzeptieren. Ich glaube nicht, dass die Gäste dann gestaffelt nach Hause gehen würden.» Daran glaubt auch die Anwohnerin Hildegard Stadler-Zuber nicht: «Man hätte den Lärm dann einfach die ganze Nacht.» Im Sommer schläft sie ohnehin nur hinter geschlossenen Fenstern mit Isolierverglasung.

Probleme gemeinsam lösen
Thomas Leibundgut, Betreiber von Toms Beer Box, ist anderer Meinung: «Problematisch ist, wenn man alle Gäste genau um Mitternacht aus dem Lokal schicken muss: sie stehen dann noch draussen rum und überlegen sich, wohin sie gehen sollen – und das verursacht Lärm. Für den Betrieb auf der Gasse ist die Polizeistunde um zwölf aber in Ordnung. Ich bin dafür, dass man die Polizeistunde im Lokalinnern liberalisiert und gleichzeitig auf der Gasse nach zwölf Uhr strenge Kontrollen durchführt, indem man die Leute anweist, entweder ins Lokalinnere oder nach Hause zu gehen. Dass die Aufhebung der Polizeistunde ein Bedürfnis ist, sieht man deutlich, wenn man hier arbeitet.»

Der IG-Altstadt Gastronomie-Betriebe, die vor rund einem Jahr gegründet wurde, war es ein Anliegen, die anstehenden Probleme gemeinsam zu lösen. «Und ich glaube, dass haben wir auch recht gut in den Griff bekommen», sagt Leibundgut. Wichtig sei, dass rund um das Lokal Ordnung herrsche und keine Flaschen oder Scherben herumliegen würden. Man mache zudem konsequent Ausweiskontrollen und schenke Bier nur an über 16-Jährige aus. «Dadurch haben wir keine ganz jungen Gäste.»

Treffpunkt Grabenstrasse
Die findet man diesen Sommer an der Grabenstrasse rund ums Café Buchli. Laut Corsin «momentan der einzige Platz, wo Junge hin können.» Maurus, 17-jährig, findets «voll lustig hier. Es ist einfach geil: man trifft Leute, es gibt Bier, man sieht Frauen.» Auch Omero aus Chur ist fast jeden Freitag und Samstag da: «Weils ja quasi nichts anderes gibt. Hier kennt man die Meisten; und es hat auch einen Tschüttelikasten. Leider gibts aber auch Einige, die zuviel trinken und ihr Mass nicht kennen».

Mitten im Getümmel stehen zwei Uniformierte. Ihre Aufgabe ist es laut Ueli Caluori, stellvertretender Polizeichef und Pressesprecher, «die (Verkehrs-) Sicherheit zu gewährleisten, Präsenz zu markieren und damit Sachbeschädigungen vorzubeugen». Dass sich die Jungen auf der Strasse treffen, sei «eigentlich schön. In Italien oder anderen Schweizer Städten zum Beispiel, ist es ja gang und gäbe, dass sich das Leben draussen abspielt. Im Grossen und Ganzen haben wir wenig Probleme, bedenkt man, dass an Wochenenden einige hundert Leute rund um die Untere Gasse verkehren.»

Auffällig seien die Auswüchse derer, die zuviel trinken würden, führt Caluori aus: «Vor allem an der Grabenstrasse beobachtet man, dass bereits 13- bis 15-Jährige Alkohol konsumieren. Die Jugendlichen schicken oft den Ältesten einer Gruppe los, um Bier zu holen. Andere wiederum bringen ihr Sixpack gleich rucksackweise mit. Alkohol ist ein gesellschaftliches Problem, das können wir aus polizeilicher Sicht nur punktuell lösen.»

Alkoholische Nebenwirkungen
Von Ausgehfreudigen, die freitags und samtags an der Grabenstrasse abfeiern, weiss Hildegard Stadler etwas zu erzählen. Wenn sie am Freitagabend heimkommt, muss sie sich einen Weg zu ihrer Wohnung bahnen. Die Jugendlichen, die sich vor der Eingangstüre niedergelassen haben, bringen das Bier meist selber im Rucksack mit. Die Bierflaschen wegzuräumen und die Zigarettenstummel einzusammeln, bleibt ihr überlassen.

Einige Kids sind zuweilen schon um zehn Uhr betrunken. Darunter leiden dann auch die Blumensäulen vor dem Laden. «Es wird viel kaputt gemacht», sagt Hildegard Stadler, «allerdings hat die vermehrte Polizeipräsenz einiges gebracht.»

«Manchmal möchte man einfach Ruhe»
«Früher habe ich immer gesagt: ich wohne gerne in der Altstadt», sagt Hildegard Stadler-Zuber, «das kann ich heute nicht mehr behaupten. Sobald ich pensioniert bin, ziehe ich von hier weg.» Wegziehen von der Unteren Gasse möchte auch die Familie Vaithijalingam, doch es sei sehr schwierig, eine andere Wohnung zu finden. Dennoch wolle er nicht klagen, sagt Mahendra Vaithijalingam, die Wohnung liege zentral und sei an und für sich günstig – aber am Freitag und Samstag eben laut. Schliesslich hätten sie Kinder, die zur Schule gingen. Und sie selbst würden auch arbeiten.

Ob sie denn an den Wochenenden vor Mitternacht schlafen könnten? «Nein», sagt der zehnjährige Indujan ruhig, «wir legen uns ins Bett, aber wir schlafen nicht.»
Ursina Straub