Für Chur ist der kommende 24. Oktober kein normaler Abstimmungssonntag, für manchen Urnengänger stehen die Nationalratswahlen an zweiter Stelle. Im Mittelpunkt steht eine ganz andere Abstimmung, die keine laute Wahlschlacht verursacht: Gewählt werden an diesem Sonntag nämlich Bürgerrat und ein neuer Bürgermeister. buehler.jpg (7132 Byte)
Stefan Bühler

Freie Stadt

Sicher: Von 33 528 Einwohnern sind nur gerade 2222 auch Bürger der Bündner Hauptstadt, also 6.6 Prozent. Dafür blicken diese auf eine viel längere Wahltradition zurück als jedes andere politische Gremium. Man muss dazu schon den Chronisten des Freilichtspiels zu St. Nicolai zitieren, welches vor genau 40 Jahren zur Aufführung gelangte:

„Ein neuer Windzug bläst durch unsere Gassen,
und freudig Leben herrschet in der Stadt,
die Kaiser Friedrichs  gnädiges Erlassen,
zur freien Stadt des Reichs erhoben hat.

Nun darf der Bürger stolz sein Haupt erheben,
in frohem Wissen um die neue Pflicht,
darf sichten, raten, darf nach Ämtern streben,
wählt Bürgermeister, Rat und das Gericht.“

Friedrich sei Dank, Chur ist eine freie Stadt. Aus der Asche des Stadtbrandes von 1464 entstand das Rathaus, das eine überlokale Bedeutung hatte. „Die Stadt Chur erhielt die Stellung eines Vorortes der Gotteshausgemeinden. Ihr Bürgermeister wurde dadurch zum Haupt des Gotteshausbundes, ihr Stadtschreiber zum Bundesschreiber und ihr Stadtweibel zum Bundesweibel“, schreibt Prof. Peter Liver. Bis zum Jahre 1874 gab es in Graubünden jeweils nur die eine, nämlich die Bürgergemeinde. Neben den 212 politischen Gemeinden zählen wir noch heute 180 selbständige Bürgergemeinden.

Zwar gibt die eine oder andere auf wie etwa jene von Trun in diesem Jahr, andere erleben beinahe eine neue Blütezeit wie die von Chur, die unter der 12jährigen Leitung von Bürgermeister Ernst Kuoni die notwendige Offenheit und Toleranz erreicht hat, um auch in Zukunft bestehen zu können. Kaiser Friedrich hat ermöglicht, dass auch 1999 nach Ämtern gestrebt werden darf und ein neuer Bürgermeister gewählt wird. Raten darf man, wer es sein wird und – so sagt es der Chronist - man darf auch „Sichten“. Genau das wird im Oktober ebenfalls gemacht, wenn nämlich das umfassende Werk „Die Bürgergemeinde Chur“ in den Verkauf gelangt, ein Buch von Enrico Giacometti, von dem wir in dieser Ausgabe berichten. Und nach dessen Lektüre für jeden Leser klar ist: Am 24. Oktober sind die Nationalratswahlen Nebensache, zur Wahl steht ein neuer Bürgermeister.
Stefan Bühler