Vereinatunnel: Die RhB hebt ab

Ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, jetzt ist das Werk vollendet: Die Vereinalinie der Rhätischen Bahn mit dem 19 km langen Tunnel zwischen Selfranga und Sagliains als Herzstück. Der Bevölkerung hüben und drüben des Silvrettagebirges, den Gästen der Ferienecke der Schweiz, aber auch Churerinnen und Churern eröffnen sich bahntastische Erlebnis-Möglichkeiten.

Eben war das erste Streckenstück der heutigen RhB zwischen Landquart und Klosters gebaut, da wurde angeregt, eine Schmalspurbahn mit einem Tunnel durch den Scaletta ins Engadin zu erstellen. Die Forderung stammte nicht etwa von einem Politiker oder Eisenbähnler, es war ein Holländer namens Willem Jan Holsboer, Hoteldirektor in Davos, im Jahre 1889. 110 Jahre hat es gedauert, bis seine Idee Wirklichkeit wurde. In rund 17 Minuten ist man heute «drüben», vom Engadin im Prättigau oder umgekehrt, sei es mit dem PW, dem Reisecar, dem Lastwagen oder als Bahnhreisende(r) – ob Sommer oder Winter.

Probebetrieb zwischen 1. und 12. November 1999
Die neue Bahnlinie hat das Wetteifern am 22. September 1985 gegen das Ausbauprojekt der Flüelapassstrasse gewonnen. 23  426 Bündner haben an der denkwürdigen Volksabstimmung gegen das Nein von 17 018 einen Kantonskredit von 68,25 Mio. Franken erwirkt und somit den Grundstein für das umweltfreundliche Bahnprojekt mit «Rollender Strasse», respektive für eine wintersichere Verbindung vom und ins Unterengadin, gelegt. Die Churer waren zwar nicht das Zünglein an der Waage, aber mit zweimal mehr Ja- als Neinstimmen haben die Städter den klaren Beweis erbracht, dass auch sie hinter der RhB und der Vereinalinie stehen. Das kommt ihnen jetzt zugute. Relaxe Stunden im Bad Scuol sind nun an einem Nachmittag mit Kind und Kegel möglich, eine Steppvisite nach St. Moritz an den Bobrun oder zu einem Poloturnier, eine Wanderung im Nationalpark oder ein Trip an die Zunge des Morteratschgletschers ebenfalls. Umgekehrt sind die Engadiner und Münstertaler der Kantonshauptstadt ein riesiges Stück näher gerückt, dank dem 19 km langen Vereinatunnel  zwischen Sagliains und Selfranga. Und das nicht etwa erst ab dem magischen Eröffnungsdatum 19111999 (19. November 1999). Bereits zwischen dem 1. und 12. November stehen die Signale für den Probebetrieb mit den Autoverladezügen durch den Vereinatunnel auf Grün (siehe Kasten «Fahrplan Probebetrieb»). ChurerInnen und EngadinerInnen können also ab sofort auf die Schiene und sich in der Kreuzungsstation in der Tunnelmitte bei 100 km/h zuwinken …

Verzögerter Baubeginn
So unspektakulär einfach die Reise mit dem Personen- oder Autozug durch den Bauch des Silvrettagebirges ist, so spektakulär ist die Baugeschichte dieser «Modelleisenbahn» mit dem längsten Meterspurtunnel der Welt. Anfang der Siebzigerjahre haben Exponenten der 1969 gegründeten Pro Engiadina Bassa eine wintersichere Verbindung nach Nordbünden gefordert: entweder einen Ausbau der Flüelapassstrasse oder ein Eisenbahntunnel mit Autoverlad. Bei der RhB wurde der Ball aufgenommen, mit dem Resultat, dass
bereits 1974 die ersten generellen Studien vorlagen, die auch beim damaligen Verkehrsminister, Bundesrat Willy Ritschard, zustimmendes Nicken auslösten. Das Projekt fand 1977 Eingang in die schweizerische Gesamtverkehrskonzeption. Bis das Vorhaben planerisch ausgearbeitet und auch auf politischer Ebene vorangetrieben war, dauerte es rund 10 weitere Jahre. 1984, als Leon Schlumpf bereits seit fünf Jahren in der Landesregierung war, äusserte sich der Bundesrat erstmals konkret für eine wintersichere Verbindung zwischen dem Unterengadin und dem Prättigau mit einer Bahnlinie und mit «Rollender Strasse». Im folgte der Grosse Rat des Kantons Graubünden mit klaren 98 gegen 4 Stimmen für das Vereina-Projekt und gegen den Ausbau der Passstrasse. Danach prägte ein Hin und Her zwischen Gegnern und Beführwortern das Geschehen rund um Vereina. Die Emotionen gingen nicht nur an den Stammtischen im ganzen Bündnerland und in den Leserbriefspalten hoch. Auch nach dem Volksentscheid nahmen die hitzigen Debatten und Streitereien kein Ende, was summa summarum dazu führte, dass nicht am 1. September 1988, sondern erst am 18. April 1991 mit dem Bau begonnen werden konnte.

Unglaublich genauer Treffpunkt
Nicht vergessen ist heute die über achtjährige Bauzeit, der Studien, geologische Untersuchungen, Projektänderungen, Termin- und Bauplanungen vorausgegangen sind. Noch während man im 2172 Meter langen Zugwaldtunnel zwischen Klosters und dem
Autoverladebahnhof Selfranga dem Durchschlagpunkt entgegengearbeitet wurde (Durchschlag am 22. November 1994) begannen die Arbeiten am Vereinatunnel. Von der Engadiner Seite wurden 7376 m des Silvrettagebirges sprengtechnisch durchörtert, von Norden her der grösste Teil der 11 574 m langen Strecke mit der speziell für den Einsatz am Vereina konzipierten Tunnelbohrmaschine. Am 26. März 1997 trafen sich die Tunnelbauer beim Durchschlagpunkt mit den unglaublich geringen Abweichungen von quer 82, längs 109 und in der Höhe 12 mm! Dazu kam ein Vorsprung auf das Bauprogramm von fünf Monaten, das dem für Tunnelbauten revolutionären sprengtechnischen Vortriebssystem, dem Einsatz der leistungsstarken und kein Gestein scheuenden Tunnelbohrmaschine, vor allem aber den unter Tag arbeitenden Menschen zu verdanken war.

Die riesige Menge Ausbruchmaterial, die dem Berg entnommen wurde, entspricht in losem Zustand einem Volumen von 1,968 Mio. m3. Damit hätten 98 400 Transportwagen der Rhätischen Bahn mit je einem Fassungsvermögen von 20 m3 gefüllt werden können. Die Lokomotive dieses Zuges wäre im Hauptbahnhof von Rom eingefahren, wenn der letzte Wagen der Komposition den Bahnhof Basel verlassen hätte. Das Material wurde zu Betonzuschlagstoffen für den Eigenbedarf und zu Bahnschotter für die Vereinalinie verarbeitet, für Schüttungen verwendet und in Deponien eingebracht. 

Bereit für die Zukunft
Nach der «rohen» Arbeit im Berg, mit der erstmals am Vereina angewendeten einschaligen Bauweise im Nassspritzbetonverfahren, kamen die Eisenbahntechniker: Gleise und Fahrleitungen, Sicherungs- und Kommunikationseinrichtungen usw. wurden erstellt, geprüft und im vergangenen Sommer samt Rollmaterial durch das engagierte RhB-Personal bis ins hinterste Detail getestet.

Jetzt ist alles bereit: der mit dem neuen Mittelperron zu einem Knotenpunkt im RhB-Netz ausgebaute Bahnhof Klosters, der Zugwaldtunnel, die Autoverladestationen Selfranga bei Klosters und Sagliains zwischen Susch und Lavin und natürlich der Vereinatunnel. 571 Mio. Franken (Preisbasis 1985) hat das Werk gekostet, dafür ist das Unterengadin ganzjährig sicher und bequem zu erreichen. Mehr noch: Im Zuge des Angebotskonzepts Bahn 2000 und dem davon abgeleiteten NEVA Retica (Neues Eisenbahn Verkehrs-Angebot der RhB) sind die Verknüpfungen der Angebote von SBB und RhB und die neuen innerbündnerischen Verbindungen realisiert. Zu den stündlich verkehrenden Schnellzügen Landquart–Davos gesellen sich ebenfalls im Stundentakt fahrende Interregio-Züge von Landquart durch den Vereinatunnel nach Scuol-Tarasp. Dazu kommen Ausflugszüge wie der «Engadin Star» oder der Badezug «Aqualino Scuol» und solche, die mit der Rundreise Chur–Landquart–Vereina –Bever–Albula–Filisur–Thusis– Chur das weltweit einmaligste Bahnerlebnis bieten. Zwischen Selfranga und Sagliains verkehren jede Stunde 1 bis 3 Autozüge. Der Verlad kostet  pro Personenwagen inklusive Insassen zwischen 27 Franken (Niedertarif Sommer) und 40 Franken (Hochtarif Winter). Nach dem Probebetrieb vom 1. bis 12. November befällt die neue Vereinalinie die Ruhe vor dem Sturm. Los geht’s fahrplanmässig am Montag, 22. November 1999. Der Samstag und Sonntag davor gehört dem Volk beidseits des Vereinatunnels. Mit dem wohl spektakulärsten Eröffnungsfest, das Graubünden je erlebt hat, wird die neue, moderne RhB-Linie aus der Taufe gehoben – zusammen hoffentlich mit allen 186 100 BündnerInnen.
Walter Schmid