«Röteli» und Königin der Wurst
nehmen gerne Rache

Am Churer «Röteli»-Likör und an der Churer Beinwurst ist die Technologie spurlos vorübergegangen. «Röteli» und Beinwurst werden noch immer in aufwändiger Handarbeit hergestellt. Beide haben aber noch eine Gemeinsamkeit: Der Röteli rächt sich bei übermässigem Genuss mit Kopfweh, die Beinwurst mit oft unauslöschlichen Spuren.

Sie gehören zu Chur wie der Martinsturm: Der «Röteli» und die Beinwurst. Ob die beiden Produkte in Chur «erfunden» wurden, ist nicht verbrieft. Dass die Herstellung aber auf eine lange Tradition zurückgeht, schon. Und dass zwei Churer eine Meisterschaft bei der Produktion ihrer Spezialitäten entwickelt haben, daran zweifelt wohl ebenfalls niemand. Während Fritz Schiesser sich als einziger Churer Metzger auf die Perfektion der Churer Beinwurst verlegt hat, versteht es der ausgebildete Drogist Hans Ullius, aus Berg- oder Bio-Kirschen, Kirschsaft, Hochprozentigem und Gewürzen, den ebenso berühmten Churer «Röteli» nach altem Rezept zu brauen.

Die Königin der Würste
Das Vis-à-vis betrachtet zunächst ärgerlich die Fettspuren auf Hemd und Krawatte, bevor es wieder zu seiner guten Laune zurückfindet. Zu einem traditionellen Beinwurstessen gehören solche kleinen Ausrutscher schon fast zum guten Ton. Sie, die Beinwurst, kann nämlich einem Regierungsrat genau so zum Verhängnis werden wie dem «Büezer» von nebenan - sofern die Königin aller Würste allzu lustvoll, gedankenlos oder mit entsprechend sadistischer Ader angestochen wird. Die Wurst aller Würste nimmt es nämlich ganz besonders übel, wenn man ihr nicht mit der nötigen Sorgfalt huldigt. Ihre Rache hinterlässt dann oft dauerhafte Spuren, gerade so wie dies das Lied der Bündner Beinwurst seit Generationen tut.

Die Churer Beinwurst ist trotzdem ein Leckerbissen - zumindest für denjenigen, der sie mag. Und mögen tun sie allen voran die Männer. Aus unerfindlichen Gründen können sich viele Frauen nicht für die traditionelle Wurst begeistern. Fritz Schiesser kann sich diese «frauenfeindliche» Haltung gegenüber dieser besonderen Delikatesse auch nicht so recht erklären. Ist es, weil die Beinwürste wie das Amen in der Kirche mit Sicherheit immer an den traditionellen Herrenabenden auf den Tisch kommen? Weil die Beinwurst-Spuren schwerlich zu tilgen sind? Weil die Wurst ausser magerem Fleisch auch Knochen und Schwarten enthält? Oder weil sie, wie ein Kritiker 1886 in den «Bündner Nachrichten» (mit nachfolgendem Protest) zu bemerken wagte, «auch weniger verwöhnten Gaumen ein unangenehmes Beissen, Brennen und Kratzen entzündet?»

Wie auch immer. Man(n) (und Frau) ist für sie oder gegen sie. Man liebt sie, oder verachtet sie. Dabei geniesst sie bei Churern genau so wie bei den übrigen Bündnern und den Heimwehbündern sowohl in der ganzen Schweiz als auch im Ausland einen nachhaltigen Ruf. Darauf, dass der gute Ruf noch lange erhalten bleibt, achtet Fritz Schiesser, gleichsam der Hüter der Churer Beinwurst, ganz genau.

Das hohe Ansehen verpflichtet
Zu ihrem hohen Ansehen ist die Churer Beinwurst schon im letzten Jahrhundert gelangt. Nachahmungen, wie die Prättigauer Beinwurst oder die Bündner Beinwurst, tun sich noch heute schwer damit, mit der Churer Beinwurst gleich zu halten, obwohl diese möglicherweise gerade so gut munden (etwaige Leserbriefe sind an das «Churer Magazin» zu richten). Wann die Beinwurst erfunden wurde, weiss heute niemand mehr so richtig. Sicher ist, dass der Männerchor Chur seinen allerersten Beinwurstabend im Jahre 1879 durchführte und damit vermutlich die Wurst gleichsam in den Adelsstand erhob. Denn in der Beinwurst, zwar nicht gerade ein typisches Armeleuteessen, konnten früher immerhin auf mehr oder weniger elegante Art die beim Schweineschlachten angefallenen Resten verwertet werden.

Handarbeit ist unabdingbar
Heute werden in der Churer Beinwurst keine Resten mehr verwertet, sondern ausgesuchte Stücke vom Schwein, die zusammen mit Knöchlein und Schwarten im Gewürz- und Weinbad während vier bis fünf Tagen gebeizt werden. In ausgewogener Mischung werden die Stücke dann in die vorbereiteten Naturkalbsdärme gefüllt, satt zugebunden und für 12 Stunden in den mit Sägemehl gefütterten Räucherofen gehängt. Der Rauch, Vorbote spätherbstlicher und winterlicher Beinwurstabende, zieht dann verführerisch durch die Altstadtgassen. Die (toleranten) Nachbarn wissen es: Jetzt gibt es wieder die berühmten Churer Beinwürste, die per Zug, Auto oder auf dem Postweg auch ihren Weg in die Küchen vieler Schweizer Restaurants oder Privathaushalte finden. Und was wäre ein Bündner-Abend in Bern, Zürich oder Basel ohne echte Churer (manchmal auch Bündner) Beinwurst?

Fritz Schiesser und seine Mitarbeiter haben deshalb zwischen Oktober und der Fasnacht alle Hände voll zu tun. In dieser Zeit verlassen die Metzgerei 1,5 Tonnen Beinwürste in den verschiedensten Grössen. Das sind dann so an die 3000 Würste, die all diejenigen, die sie essen, für kurze Zeit - Fettspritzer hin, Fettspritzer her - im Glück schwelgen lassen. Die Erinnerung an das gute Stück hält sich jedoch hartnäckig bis zur nächsten Beinwurstsaison.

Churer Röteli
Gerade so wie die Churer Beinwurst hat auch der «Röteli» Hochsaison während den Wintermonaten. In vielen Bündner Gemeinden hat sich bis heute die Tradition erhalten, mit dem Röteli zum Jahreswechsel anzustossen. So zieht die Jungmannschaft vieler Dörfer am 31. Dezember und 1. Januar von Haus zu Haus, um die Neujahrswünsche zu überbringen, wobei ihr mit einem Glas «Röteli» gedankt wird. Dieser schöne Brauch wird zwar in Chur nicht (mehr) gepflegt, aber stattdessen sorgen etwa die Churer Drogisten Truog und Ullius dafür, dass die traditionelle Röteli-Herstellung nicht ausstirbt. Bereits in dritter Generation produziert Hans Ullius den mittlerweilen über die Schweizer Grenzen hinaus bekannten «Churer Röteli». Das Rezept, das 1912 in die Hände der Drogistenfamilie Ullius über das zuvor am gleichen Standort domizilierte Kolonialwarengeschäft gelangte, hat Hans Ullius jedoch weiter verfeinert.

Grundlage dieser traditionellen Churer «Ullius»-Spezialität, die auch Bündner Spitzenköche für ihre Dessertkreationen entdeckt haben, sind Obstbranntwein sowie schwarze Berg- oder Biokirschen, «um die schöne Farbe zu erhalten», wie Ullius erklärt. Der traditionelle Röteli-Hersteller pulverisiert zuerst Gewürze, wie Zimt, Zimtblüten, Nelken, Vanilleschoten und Piment, die er dann in Alkohol einlegt. Dem zweiwöchigen Rührvorgang schliesst sich das Filtrieren an. Aufgefüllt wird der 400 Liter Tank mit zusätzlichem Alkohol, Kirschsaft, Zuckersirup und Wasser. Rund zwei Monate später kann der Röteli nach einer zweiten Filtrierung in Flaschen abgefüllt werden. Für Hans Ullius ist die Arbeit dann aber noch lange nicht zu Ende. Um die Nachfrage nur einigermassen abzudecken, setzt er pro Jahr drei bis vier Röteli-Fässer an. Die 2000 bis 3000 Flaschen finden ihre Abnehmer, darunter auch zahlreiche Besucher Churs, schnell. Da der süsse Likör 28 Volumen Prozent Alkohol enthält, empfiehlt Hans Ullius, ihn «gläschenweise» zu geniessen, um der süssen Rache zu entgehen. Karin Huber