Graubünden erforschen

Die Naturforschende Gesellschaft Graubünden in Chur ergründet seit 175 Jahren die Naturverhältnisse im Kanton. An Vorträgen werden Erkenntnisse und Resultate präsentiert. Man muss kein Naturforscher sein, um Mitglied der Gesellschaft zu werden. Und keine Professorin, um den Vorträgen folgen zu können.

Es war eine «Schar gebildeter und wohlgesinnter Männer, die an der Spitze des jungen Bundes stand», erzählt der Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft zum 100-Jahre-Jubiläum. Unentwegt haben diese Männer «ihr Banner hochgehalten. Auch als auf die begeisterte Glanzperiode der ersten sieben Jahre eine gewisse Erschlaffung eintrat, die mehrmals die Existenz der Gesellschaft in Frage stellte.»

Plattform für den Infoaustausch

Ärzte, Mittelschullehrer, Apotheker, Forstinspektoren, Buchhändler und Kaufleute gründeten 1825 die Naturforschende Gesellschaft (NFG). Sie wollten die nähere Umgebung erfassen und erklären; die Forschung im Kanton voran bringen. Die Naturforschende Gesellschaft wurde dabei als Plattform für den Informationsaustausch genutzt: An Vorträgen präsentierte man die eigenen Forschungsergebnisse. Man tauschte Literatur und Lesemappen aus. Informierte sich über den Forschungsstand der Kollegen.

«Es war sicher eine Männergesellschaft und eher die gehobene Schicht, die sich Forschung als Hobby leisten konnte», sagt Dr. Jürg Paul Müller, Vorstandsmitglied der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden in Chur. «Von Frauen hat man damals nicht viel gehört.»

Das ist heute anders. Frauen machen rund die Hälfte der über 300 Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaft aus. Mitglied können alle an der Naturwissenschaft interessierten Personen werden.

Praxisbezogen und lebendig

Und obgleich es die gehobenen Schicht war, die forschte - sich Forschung leisten konnte - handelte es sich bei der NFG nicht um eine gegen aussen abgeschottete, elitäre Gruppe. «Es war immer schon eine grosse Öffnung gegenüber Laien da», weiss Jürg Paul Müller. Auch heute noch.

Doch versteht die Laiin von den Vorträgen überhaupt etwas? Themen wie «Nanotechnik - Utopie heute, Wirklichkeit morgen» lassen einem im ersten Moment vermutlich zurückschrecken. Eher verständlich sind vielleicht Vorträge über den «Lawinenwinter 98/99» oder das Thema «Als Davos noch Meer war», denkt man sich.

Jürg Paul Müller zerstreut jedoch anfängliche Bedenken. Er sei überzeugt, dass die Vorträge auch ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse mitverfolgt werden könnten. Man müsse am nächsten Tag ja keine Prüfung über das Gesagte schreiben. Die Referate würden sich auch als Denkanstoss eignen. Und zudem würden die Referenten praxisbezogen, lebendig und oftmals auch witzig vortragen. «Die Erfahrung zeigt: die ganz Guten können einfach und verständlich reden.» Immerhin sind die Vortragenden ausgewiesene Fachleute und sogar ein Nobelpreisträger findet sich unter ihnen.

Laien neben Berufsleuten

Gewandelt hat sich das Publikum der Vorträge. Neben interessierten Laien - Hobbystrahlern und Fossiliensucher beispielsweise - kommen heute auch viele Berufsleute an die Referate: Geologinnen, Archäologen oder Landwirte etwa.

Anders war es vor über hundert Jahren, als ein festes Grüppchen in den Reihen sass. Jeder Vortrag wurde besucht, auch wenn man zeitweilig nichts verstand.

Das gesellschaftliche Element war wichtig. Und das pflegt der Vorstand der NFG auch heute wieder: Nach den Vorträgen wird ein Apéro serviert, angeregte Gespräche entstehen, der Referent stellt sich den Fragen. Man knüpft neue Kontakte. Sieht über das eigene Gebiet hinaus.

Zurück zur Generalität

Überhaupt ist das Kontakte knüpfen und Zusammenhänge herstellen wieder in den Vordergrund gerückt. «Der neue Trend heisst: zurück zur Generalität», sagt der Zoologe Jürg Paul Müller. «Natürlich braucht es Spezialisten, doch die Gesamtansicht ist heute sehr wichtig. Ich denke beispielsweise an die Klimaerwärmung: wie sollte dieses komplexe Thema ein Einzelner lösen? Das ist eine Sache, die wir nur gemeinsam angehen können.»

Nach einer ersten Phase der Inventarisierung zog man sich anfangs dieses Jahrhunderts stark in die Labors zurück. Genetik, Molekularbiologie oder Entwicklungsbiologie kamen auf. Die Forscher spezialisierten sich stark. Erst als die Ökologie Aufwind bekam, dachte man wieder in grösseren Zusammenhängen. Heute kommt man vermehrt aus den Labors heraus, setzt sich mit dem auseinander, was aktuell ist. Mit den Auswirkungen der Klimaerwärmung beispielsweise.

Wissen zum Anfassen

Trotzdem: braucht es überhaupt eine Naturforschende Gesellschaft? Ist sie nicht antiquiert? «Sie können jetzt sagen: das kann man später alles im Internet nachlesen. Das stimmt. Die modernen Kommunikationsmittel sind zwar wichtig», räumt Vorstandsmitglied Müller ein. «Doch das dreidimensionale Objekt und die Menschen, die haben sie im Internet nicht.»

Und: «Man kann es drehen und wenden wie man will: wenn ich mir anschaue, wo die besten Institute sind, dann ist das nicht da, wo die besten Computer stehen, sondern da, wo die besten Menschen arbeiten.»

Ursina Straub