Mühlbäche

Charaktervolle Allroundgewässer

Seit rund 900 Jahren fliessen sie durch die Stadt: die beiden künstlich angelegten Mühlbäche. Sie sind einmalig in der Geschichte der Schweizer Städte, erbringen seit jeher Leistungen und werden von den Industriellen Betrieben der Stadt Chur zwischen «Quelle» und Mündung in den Rhein unterhalten.

Das ohrenbetäubende Fortissimo in der 1906 gebauten Zentrale Sand ist die Ouvertüre der beiden Churer Mühlbäche. Vom ersten Kraftakt – dem Antrieb der kleinsten Kaplan-Turbine – entlassen, wird das Wasser geteilt, strömt als Obertorer und Untertorer Mühlbach unter- und oberirdisch talwärts, wird da und dort nochmals in die Dienste genommen, um schliesslich die letzten paar hundert Meter pianissimo über die Obere und die Untere Au dem Rhein entgegenzufliessen. Während hinten im Sassal, auf 611 m, mit der Wasserkraft Elektrizität erzeugt wird, schnattern rund 50 Höhenmeter tiefer auf dem gleichen aber ruhigen Nass Zierenten und lassen sich aus Kinderhänden füttern. Womit gesagt ist: Die Churer Mühlbäche erfüllen heute zwei wesentliche Funktionen. Einerseits bringen sie Nutzen, andererseits sind sie Bestandteile des städtischen Naherholungsgebietes. Sie sind aber auch lebendige Zeugen der Churer Stadtgeschichte.

Ursprung in der Römerzeit

Ausgrabungen im Welschdörfli in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts haben den eindeutigen Beweis für die Existenz einer ehemaligen römischen Siedlung mit einem Badehaus links der Plessur erbracht. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde das dazu benötigte Wasser im Gebiet der Kälberweide gefasst und in Holzröhren ihrem Bestimmungsort zugeleitet. Es sei anzunehmen, berichtet Ingenieur Walter Versell, dass der Obertorer Mühlbach bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus bestanden habe und offensichtlich für die römische Siedlung angelegt und betrieben worden sei.

Als vor über 1500 Jahren Chur unter die Herrschaft des Ostgotenkönigs Theodorich geriet, entstand auch die neue Stadt unterhalb des Hofes, deren Gebiet der heutigen Altstadt entspricht. Sie wurde von einem schützenden Graben umschlossen, der als Bett des Untertorer Mühlbaches oder Stadtbaches gedient hat.

Arbeitsgewässer

Diese beiden «Ur-Mühlbäche» haben sich in der Folge stark verändert. Wann die heute noch existierenden «Kanäle» der Stadtbäche entstanden sind, dürfte kaum eruierbar sein. Sicher scheint, dass die Plessur als launischer, unberechenbarer Wildbach mit wechselnder Wasserführung, oft hohem Wellengang und gefährlichem Geschiebe für eine Nutzung ungeeignet war. Man brauchte aber auch in Chur, das um 1300 einen weit verbreiteten und bedeutenden Getreideanbau aufwies, Energie um Mühlen zu betreiben. Als erste wird Anfang des 12. Jahrhunderts die Mühle «sub saxo» unterhalb des Klosters St. Hilarien genannt, die links der Plessur am Untertorer Mühlbach lag. Um 1150 wird eine Mühle «intra muros» erwähnt, die wahrscheinlich am heutigen Postplatz stand und den Beweis für den rechts der Plessur liegenden Mühlekanal bringt.

Die grösste Bedeutung hatten die Mühlbäche in der Zeit zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert. Chur war in jenen Zeiten ein typisches Bauern- und Handwerkerstädtchen, deren Einwohner die Kraft der beiden Gewässer zu nutzen wussten. Bereits vor der Teilung der beiden Bäche, auf dem Sand, befand sich im 15. Jahrhundert die Kupfer- und Büchsenschmiede, die auf Mühlbachwasser angewiesen war. Der Untertorer Mühlbach trieb vor rund 400 Jahren bei der heutigen Steinerschule das Klipp- und Hammerwerk und später das Walzwerk der vom Bischof und der Stadt gemeinsam betriebenen Münz-Prägestätte an. Weiter stadtwärts an der Jochstrasse nutzte auch der Pulvermacher Meister Max Moritzi das Mühlbachwasser.

Hochbetrieb beim Arcas

Eine ganze Anzahl von wasserabhängigen Betrieben lag im Gebiet Bärenloch-Brotlaube-Arcas: die «Mühle ob der Metzg», die später «Chorherrenmühle» hiess, die «Metzg» im Hause der heutigen Volksbibliothek, wo für die Verrichtung der Arbeiten dem Mühlbach sauberes Wasser entnommen wurde. Vor dem Schlachtgebäude standen mehrere an Stadtbürger verliehene Metzgbänke. Gerber, Kürschner und Fellmacher betrieben ihr Handwerk ausserhalb der Stadtmauer beim Gerbertor, wie das Metzgertor beim Arcas auch bezeichnet wurde. Vom Mühlbach bezogen sie sauberes Wasser, während das verschmutzte Wasser, wie auch jenes der Metzger, samt den Abfällen in die nahe Plessur verschwanden. Ebenfalls mit dem noch sauberen Wasser aus dem Untertorer Mühlbach versorgt, genossen die Bürger das zwischen 1320 und 1400 beim Arcas gelegene «Griechische Badstübli». Die «Vizdumsmühle» bei der Brotlaube wurde später nach dem damaligen Besitzer in «Spritzen müli» umgetauft und im 19. Jahrhundert «Obere Mühle» genannt. Beim Mühleplatz gegenüber dem Rathaus lag die «Gansnerin-Mühle». Auch sie wechselte den Namen, hiess nach dem Stadtbrand von 1464 «Stadtmühle» und ab dem 16. Jahrhundert «Mittlere Mühle». Vor dem Schelmen- oder Hanikelturm, am heutigen Zugang zum Postplatz von der Storchengasse her, befand sich die «Planatairenmühle», die erst im 13. Jahrhundert in die Stadtmauer einbezogen wurde.

Der Untertorer Mühlbach trieb auch das Rad der «muli da brül» an. Sie stand ausserhalb der Stadtmauer im Gebiet der heutigen Kreuzung Otto-/ Alexanderstrasse. Nicht weit von ihr entfernt befand sich «holzlegy, hus, stallung, krutgarten mit sampt der Sagen alles under der statt zum Underen Thor an der statt Mülbach gelegen».

Kehren wir zurück zur «Quelle» der Mühlbäche auf dem Sand. Unmittelbar nach der heutigen Überführung des Obertorer Mühlbaches über die Plessur lag die Mühle «unter dem stain», die im Urbar des Domkapitels vom 12. Jahrhundert erwähnt wurde und in erster Linie als Sägemühle diente. Von dort fliesst das kanalisierte Wasser zum Zollhaus, wo im 13. Jahrhundert die «Churwaldner Mühle» angetrieben wurde. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts befand sich die nun «Rindenmühle» genannte Einrichtung im Besitz der Stadt (Rinde bedeutete auch lederner Sack).

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Mit zwei Rädern, Walke und Stampfe für den Gerbereibetrieb ausgestattet, gehörte sie lange Zeit zu den grössten Mühlwerken der Stadt. Wo der Mühlbach die Kasernenstrasse kreuzt stand die «Mühle de Ponteil», die im 14. Jahrhundert «Landolfes müli» genannt wurde. Zur gleichen Zeit existierte an der oberen Sägenstrasse die Obertorer Säge. 200 Jahre später verlieh die Stadt Säge- und Räderwerk mit «Schmidtwerk, Sägablatt und ander gewüb» mit Haus und Apfelbaum einem Hans Koch gegen einen jährlichen Zins von 50 Gulden.

Nutzen für die Bevölkerung

Neben den «Industriellen Betrieben» des Mittelalters zog innerhalb der Stadmauern praktisch jeder Bürger seinen Nutzen aus den Stadtbächen. Beide offen fliessenden Gewässer spiesen ein ganzes Netz kleiner Bäche, welche durch die Gassen und einzelnen Stadtteile flossen. Dadurch konnte den Wohnhäusern, Handwerksbetrieben und Ställen Wasser zugeführt werden, sei es für die Tränke des Viehs oder – in trockenen Jahreszeiten – für die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser. Zudem wurde Handwerkern und Hausfrauen das nötige Wasch- und Putzwasser zugeführt und die Ableitungen dienten ebenso der Feuerbekämpfung. Während die kleinen offenen Rinnsale nicht für den Abtransport von Unrat benutzt werden durften, dienten die zwei Hauptstränge auch der Kanalisation und Abortspülung, was ihnen den treffenden Namen «cloaka maxima» eintrug.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Ruf nach einer «Kloakenreform» immer lauter. Die angestrebte Kanalisation in der Altstadt kam jedoch erst 1910 zustande, womit die Mühlbäche von menschlichem Unrat befreit waren. Bereits Jahrzehnte vorher wurden ganze Streckenabschnitte in der Innenstadt überdeckt und die Gewässer verschwanden grösstenteils im Untergrund. Dennoch stand das vernetzte System mit unzähligen Schiebern und Verzweigungen noch bis vor wenigen Jahren im Dienste der Stadthygiene: man benutzte das Mühlbachwasser zur Spülung der Kanalisation.

Kühlwasserlieferant und Stromerzeuger

Ältere ChurerInnen erinnern sich noch an die Firma Pedolin an der Kasernenstrasse, die das Wasser des Obertorer Mühlbaches für das Reinigen der Schafwolle in einem offenen Bottich neben der Fabrik benutzte. Bis vor wenigen Jahren bezog auch die Calanda Bräu Wasser für Kühlzwecke aus dem Bach und weiter unten stand bis Mitte des letzten Jahrhunderts die Küblerei mit einer eigenen Turbine. Die Wasserkraft der Mühlbäche wird heute noch in die Dienste genommen – und nicht einzig im EW Sand. Das Gefälle des Untertorer Mühlbaches von 6 Metern zwischen Manor und Bahnhof nutzt die SBB in einem Druckstollen und treibt damit ein Kleinkraftwerk an. Seit wenigen Jahren «hängt» auch die Rheinmühle wieder am Mühlbach und produziert mit einer eigenen Turbine Strom. Das Gleiche gilt für die tiefgekühlte Teigwaren produzierende Firma Frigemo (ehem. Cada) an der Sägenstrasse. Nutzniesser sind auch die Polycontact AG an der Rossbodenstrasse sowie die Kunsteisbahn an der Calandastrasse, die Mühlbachwasser zur Kühlung einsetzt. Noch immer bestehen die Leitungen zur Quaderwiese, wo noch vor rund 30 Jahren zu Winterszeiten mit Wasser aus dem Untertorer Mühlbach die Natur-Eisfläche präpariert wurde. Das zügige Fliessgewässer wird auch von der Stadt genutzt. Schneeräumungskosten können nämlich eingespart werden, indem die weisse überflüssige Pracht via Tombinen in der Altstadt dem Mühlbach zum Abtransport übergeben wird.

Aufwändiger Unterhalt und Renaturalisierung

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Die Industriellen Betriebe der Stadt Chur sind es auch, die für den Unterhalt der beiden Mühlbäche sorgen. Zwei Mal jährlich wird hinten im Sand das Gewässer abgeschlagen. Dann steigen jeweils zwei Teams der IBC an einem Samstag in den Untergrund und begehen, gebückt kriechend oder auf Rollschemmeln, die insgesamt rund 9 Kilometer langen Kanäle. Sämtliche Schäden an Gewölben, Mauern, Sohlen, Schieberanlagen, Uferpartien usw. werden protokolliert und mit den vorjährigen Aufnahmen verglichen. Daraus ergeben sich mehr oder weniger aufwändige Unterhaltsarbeiten, die jeweils im Frühling und Herbst während 2 bis 3 Wochen ausgeführt werden.

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Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den offen fliessenden Abschnitten zwischen Rheinquartier und Rhein. Seit einigen Jahren ist die Stadt nämlich bemüht, die lange Zeit vernachlässigten Uferpartien zu renaturalisiren. Böschungen werden naturgerecht «umgebaut», mit vielfältiger Flora bepflanzt und somit Lebensräume für Wasservögel, Kriechtiere und Insekten aller Arten geschaffen. Daran soll auch die Bevölkerung Teil haben, was nicht nur der idyllische Weg mit dem schilfbewachsenen Mühlbachufer und Wildentenfamilien zwischen Schützenhaus und Hallenstadion beweist. Das typischste Beispiel ist der Rheinmühleweiher, das Staubecken für den Druckstollen und das sechs Meter weiter unten liegende Kraftwerk. Was bereits jetzt schon Familien mit Kleinkindern, Spaziergänger und Naturliebhaber erfreut, soll noch in diesem Herbst weiter ausgebaut werden mit dem Ziel, entlang des uralten Mühlbaches ein lebendiges und naturbetontes Naherholungsgebiet für Churerinnen und Churer zu schaffen.

Walter Schmid