Ein Stück Heimat mitten in Chur

Einen Vasilopita zu Protohronia geniessen? Die Sehnsucht nach Portugal stillen? Das Urlaub-Spanisch auffrischen? Oder festen a la italiana? Die Mitgliedschaft bei einem ausländischen Verein oder der Besuch im Clublokal machens möglich. Ein Augenschein bei sechs Ausländervereinigungen.

Im Klassenzimmer gehts lebhaft zu und her. Die Erstklässler malen die geschwungenen Buchstaben des tamilischen Alphabets. In Landeskunde referiert die Lehrerin über Sri Lanka. Und die Viertklässler lesen eine Geschichte auf Tamil. Eifrig schreiben die Schülerinnen und Schüler in ihre Arbeitshefte und folgen den Ausführungen an der Tafel. Ab und zu mahnt eine Lehrerin zur Aufmerksamkeit. Denn die ist nicht immer gewährleistet. Schliesslich sitzt gleich hinter der Stellwand die nächste Klasse und deren Stoff ist ja vielleicht interessanter als der eigene.
Der eigentliche Zweck des Eelam-Vereins, des tamilischen Vereins Graubünden, ist die Unterweisung der Kinder in ihrer Muttersprache. Rund 80 Schülerinnen und Schüler werden in der tamilischen Schule am Bienenweg unterrichtet. Und während sie Tamil büffeln, sitzen die Eltern schon mal in einem Deutschkurs. Auch den bietet der Eelam Verein an. Daneben wird an Seminaren über das schweizerische Schulsystem oder über die Ausbildungsmöglichkeiten informiert. Der seit 10 Jahren existierende Verein unterstützt zudem kulturelle tamilische Anlässe und fördert den Volkstanz Paradinatiam.
"Wir mussten zu Anfang viel über die Schweiz lernen", lacht Karunagaran Subrayan, Vizepräsident des Eelam-Vereins. Doch er hat sich gut eingelebt. Auch Thavayoganathan Nadarajah, der Präsident des Eelam-Vereins, fühlt sich in seiner neuen Heimat wohl: "Wir sind von weit her gekommen und dürfen heute hier arbeiten und leben. Dafür sind wir sehr dankbar."
Es ist vier Uhr nachmittags. Thavayoganathan Nadarajah öffnet die verriegelte Schulhaustüre. Draussen warten Eltern mit ihren Kindern, die zweite Schicht an diesem Nachmittag. Die Kinder stürmen ins Klassenzimmer. "80 Prozent der Schüler kommen gerne hierher", weiss Karunagran Subrayan.

Vasilopita zu Neujahr

Auch der griechische Verein wurde vor 14 Jahren gegründet, um den Kindern die griechische Schrift, Sprache und Kultur näher zu bringen. Einmal die Woche wurden die Kleinen von einem griechischen Lehrer unterrichtet. Heute gibt es die Schule nicht mehr, weil viele Familien nach Griechenland zurückgekehrt sind.
Panajotis Vasiliadis ist geblieben. Er fühlt sich in der Schweiz zuhause. Dass er sich jemals in seinem Heimatland niederlässt, hält er für unwahrscheinlich. Er ist hier geboren und besuchte die hiesige Schule. In Chur erinnert ihn der griechische Verein an sein Vaterland. Rund 30 Personen gehören ihm an. Panajotis Vasiliadis ist der Präsident des Vereins.
Die Mitglieder treffen sich in losen Abständen und zu den Feiertagen. Zum Beispiel an Protohronia, dem Neujahrstag. Dann bäckt Sofia Vlachos den süssen Vasilopita, den Neujahrskuchen, den man gemeinsam verspeist. Wer in seinem Stück eine Münze findet, hat das Jahr über Glück.
Am letzten Dreikönigstag biss Sofia Vlachos auf die Münze. Die Inhaberin des Restaurants Afrodite lebt seit 24 Jahren in der Schweiz. Ihr Lokal ist für sie ein Stück Griechenland mitten in Chur. Und ihre Heimat? "Meine erste Heimat ist die Schweiz", sagt die Wirtin. "Meine zweite Heimat ist Griechenland." Und sie gesteht: "Wenn ich unten in den Ferien bin, dann möchte ich nach drei Wochen wieder nach Hause."

Stockfisch und Superbock

Diese Mischung aus Nostalgie und Heimweh hat einen Namen: "saudade" nennen es die Portugiesen. "Ein Gefühl, dass vermutlich nur Portugiesen wirklich kennen", sagt Virginia Dias, Vorstandsmitglied des Clube Recreativo Portugues. Die Lehrerin, die seit 18 Jahren in der Schweiz wohnt, fühlt sich eigentlich überall zuhause. Im Club ein bisschen mehr.
Der portugiesische Club an der Kasernenstrasse 97 ist Bar, Spielsalon und Restaurant in einem. Die typisch portugiesischen Gerichte - Meerfrüchte, Crevetten oder Stockfisch in allen Variationen - werden am Mittwoch- und Freitagabend und am Wochenende serviert. Dazu gibts Superbock-Bier oder auserlesenen Rot-, Weiss- und Grünwein.
Als der Clube Recreativo Portugues vor 10 Jahren gegründet wurde, war er hauptsächlich als Informations- und Anlaufstelle für Landsleute gedacht. "Heute sind die Arbeitnehmer viel besser informiert", beobachtet Virginia Dias. Dennoch werden rund dreimal jährlich zusammen mit dem Gewerkschaftsbund Informationsveranstaltungen durchgeführt. Daneben dient das Lokal als Treffpunkt. "Es ist ein Stück Heimat in der Schweiz", sagt Virginia Dias. "Und alles ist eben wie daheim."

Zu Mejillones ein San Miguel

Wie daheim fühlen sich Spanierinnen und Spanier an der Quaderstrasse 15. An der Bar des Clublokals der Asociacion Española kommt man bei Tapas und einem San Miguel sofort ins Gespräch. An der Wand hängt eingerahmt das Königspaar. Aufgereihte Pokale zeugen von gewonnenen Spielen. Ramon hinter dem Tresen kennt die Besucher und serviert zum Carajillo ein Spässchen. Das Clublokal ist für Mitglieder und geladene Gäste am Freitagabend und am Wochenende sowie an Feiertagen geöffnet.
Den spanischen Verein gibt es seit 32 Jahren. "Wir wollten vor allem die Spanier, die neu in der Schweiz waren, unterstützen", sagt Luis Torneiro, der Präsident des Vereins. "Bei uns erhalten sie Informationen und werden über das Arbeitsrecht aufgeklärt." In der hauseigenen Bibliothek können sie sich zudem mit Lesestoff versorgen.
Heute hat der Verein rund 130 Mitglieder. Das Clublokal dient als Treffpunkt und wird auch für Familienfeste gemietet. Die grösseren Feste werden im Titthof gefeiert. Zum Beispiel die Fiesta da primavera im Frühling und den Dia de la Hispanidad am 12. Oktober.

Kebap im Skenderbeu

Um halb acht Uhr verstummt das Gespräch am Stammtisch des Klubi Skenderbeu. Die Gäste sitzen rauchend vor einem Bier und schauen in eine Richtung. Richtung Fernseher. Nachrichten aus der Heimat flimmern über den Bildschirm. Die Neuigkeiten werden mit Zwischenrufen kommentiert. Kaum hat der Nachrichtensprecher geendet, nehmen die Stammgäste die Diskussion wieder auf.
Adem Krasniqi kommt jeden Abend gleich nach der Arbeit in den albanischen Club an der Kasernenstrasse 14. Hier trifft er Freunde, mit denen er sich in seiner Muttersprache unterhalten kann. Manchmal bestellt er einen Kebap oder ein Gulasch. Die günstigen Preise weiss er zu schätzen. Ein Mittagessen ist beispielsweise für 10 Franken zu haben.
Der albanische Club wurde vor 10 Jahren gegründet, erzählt Medzin Memeti, der das Clublokal führt. Rund 60 Mitglieder gehören dem Verein an. Benannt wurde der Club nach dem albanischen Feldherr und Nationalheld Skenderbeu, der von 1403 bis 1468 lebte.
Richtig Leben kommt an Neujahr in den Club Skenderbeu. Dann geniessen Familien, Freunde und Bekannte die hauseigene Kost, tanzen zu heimischen Klängen und vergnügen sich bei Spielen.

Gnoccis a la mamma

Wohl der grösste ausländische Verein in Graubünden ist die Associazione Campana. Rund 220 Mitglieder zählt diese Ausländervereinigung. Das Clublokal hat Platz für 120 Personen und befindet sich im ersten Stock der Rossbodenstrasse 15. Die Mitglieder kommen mehrheitlich aus der Campana, also den Provinzen Napoli, Avellino, Salerno, Benevento und Caserta. Aber auch andere italienische Gebiete und Länder sind vertreten. Am Mittwoch- und Freitagabend sowie am Wochenende erlaben frisch zubereitete südländische Speisen die Besucher. Das weiss auch Regierungsrat Claudio Lardi. Er ist ein regelmässiger Gast an der Rossbodenstrasse.
Bekannt geworden ist die Associazione Campana durch die Festa Campana. Dieses Volksfest, das zur Begegnung der in- und ausländischen Bevölkerung beitragen wollte, hat jeweils bis zu 3000 Besucher angezogen. Stars wie Umberto Tozzi, Ricchi e Poveri oder Toto Cutugno traten auf. Das Publikum dankte es mit Begeisterung.
Doch das 10-Jahre-Jubiläum der Festa Campana war zugleich das letzte Fest. Antonio Racioppi, der Präsident des Vereins, sah sich gezwungen, die Festa Campana auszusetzen. "Einerseits, weil ich einfach nicht mehr so viel Zeit investieren konnte, ich allein wendete nur schon rund 1000 Stunden auf; anderseits, weil die Sponsoren fehlten." Dennoch kann mit der Associazione Campana weitergefestet werden: Entweder an einer der vielen Veranstaltungen das Jahr über - Festa di Carnevale, Festa di San Valentino, Festa della Mamma - oder am Silvesterabend. Für Sportfans empfiehlt sich der Sonntagabend: dann nämlich werden die italienischen Fussballspiele auf Grossleinwand direkt übertragen. Eine erste kulinarische Begegnung mit den ausländischen Vereinen gelingt am besten bei Souflakis, Gnoccis oder Dosais am Churer Stadtfest. Die meisten Ausländervereinigungen bieten da die Spezialitäten ihres Landes an. Wer nicht solange warten mag, wird am besten gleich Mitglied.

Ursina Straub