Welschdörfli

Jenseits der Brücke

In den Schutzbauten am Seilerbahnweg bei der Stadthalle zeugen in nächster Umgebung gefundene Gegenstände und Relikte von der "Geburtsstunde" unserer Stadt. Der Ort liegt "ultra Pontem", wo das Leben facettenreicher war und ist, als in den übrigen Churer Quartieren: Welschdörfli.

Text: Walter Schmid

Das Wort "Verkehr" war für das Welschdörfli schon immer von grosser Bedeutung. Dass ausgerechnet hier in der Jungsteinzeit (um 4000 v. Chr.) die ersten Siedlungen entstanden sind, wird auf das Zusammentreffen mehrerer Strassenrouten an dieser Stelle zurückgeführt. Hier vereinigten sich sowohl in urgeschichtlicher als auch in römischer Zeit die Julier-, die San Bernardino-, die Oberland- und die Rheintal-Route. Das Welschdörfli war also lange vor unserer Zeit schon ein Verkehrsknotenpunkt. Dass es im letzten halben Jahrhundert zwischen der Plessur und der Stadthalle immer enger wurde, ist nicht den Spalier stehenden Häuserzeilen anzulasten, sondern dem kontinuierlich zunehmenden Verkehr - dem motorisierten natürlich. Der Engpass war den städtischen "Verkehrsplanern" schon 1936, als erstmals von einem "Welschdörfli-Durchstich" geredet wurde, ein Dorn im Auge - der bis heute nicht entfernt wurde. Noch immer ärgern sich Stadtbus-, Lastwagenchauffeure und PrivatfahrzeuglenkerInnen, weil niemand so richtig weiss, wer jetzt wem bei der engsten Stelle vor dem "Rütli" den Vortritt lassen muss. Damit die im Wageninneren ausgestossenen Verwünschungen endgültig verstummen, wird irgendwann in nächster Zeit die Liegenschaft um 1,5 Meter von der Strasse wegverschoben. Weiter stadtwärts wird das aus dem 16. Jh. stammende Haus - mit
einem wohl wertvollen schmiedeisernen Gittertor an der Strassenfront - zurzeit saniert. Der schmale Gehsteig verschwindet zu Gunsten der Strasse und die Fussgänger werden dereinst auf dem Weg vom oder ins Welschdörfli eine sichere Passarelle, mit neuer Apéro- und Snackbar, begehen können.

Landwirtschaftliches Gepräge

Das Quartier "ultra Pontem" ("jenseits der Brücke") wurde aus ersichtlichen Gründen nie in die Stadt umfassende Ringmauer des frühen 13. Jahrhunderts einbezogen und hatte im Mittelalter ein eigenständiges landwirtschaftliches Gepräge. Drei Herrenhöfe teilten sich die Klöster Churwalden und Pfäfers mit dem Bischof. Flurnamen wie "palas" oder "palazi pitschen" deuten auf einen ehemaligen Königshof hin, und der Abt von Churwalden verfügte über eine eigene Wohnung im Welschdörfli. Unterhalb des Rosenhügels wurde Wein angebaut, der aber erst durch Beigabe von Gewürzen und Honig zu einem begehrten Getränk aufgebessert wurde. Natürlich siedelten sich im Laufe der Zeit jenseits der Brücke auch Handel und Gewerbe an, die das Quartier zu einem Städtchen am Stadtrand machten. Handwerksbetriebe fassten hier Fuss und die Welschdörfli-Wirtsleute warben schon in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bei der Bevölkerung auf der anderen Seite der Plessur mit "Tanzbelustigungen".

Dienstleistungen und Handwerk

Einen eigenständigen Charakter hat das Welschdörfli heute noch, auch wenn bei der Erwähnung des Quartiers in erster Linie an das "Rotlichtmilieu" gedacht wird. Weil in der breiten Bevölkerung kaum offen darüber gesprochen wird, hat das Welschdörfli so etwas wie den Nimbus des "Tabu-Quartiers" von Chur. Verdient hat es das aber nicht. Denn neben dem halben Dutzend Night-Clubs oder Cabarets, die dem Naturell der Institutionen entsprechend vorwiegend von männlichen Gästen besucht werden, wird hier in unzähligen Geschäften, Unternehmungen und Betrieben "seriös" gearbeitet. Weit über 30 Jahre ist beispielsweise das heute von Stefan Bucher geführte Velos-Motos-Geschäft (vormals Josef Brenn und Jost Staffelbach) an der St. Margrethenstrasse ansässig, und im "Brocki Chur", dem grössten Secondhand-Laden weit und breit, gibt es nichts, was es nicht gibt. An dieser bergseits parallel zum Welschdörfli verlaufenden Gasse verleiht Erwin Hofmänner in der Feinschleiferei von Messer Leupi allem was scharfkantig sein muss (Messer, Scheren, Schlittschuhe etc.) den erforderlichen Schliff. Gleich daneben arbeitet seit einigen Jahren auch die Schneiderin Rahel Götz in ihrer "Couture Rahel". Und um die Ecke liegt das Druckzentrum Graubünden, wo die regionalen Zeitungen und andere Druckerzeugnisse produziert werden. Im Welschdörfli beheimatet ist auch das Dekorationsgeschäft und -atelier Chris-toffel oder die Wolldeckenfabrick Bosio. Zum Welschdörfli, das streng geografisch eigentlich auf das Gebiet zwischen dem Hotel Chur mit dem Restaurant "Bistro" und dem Seilerbahnweg liegt, gehört auch der erste Abschnitt der Sägenstrasse. Hier findet man im Sicherheitszentrum alles, was unerwünschten Personen den Zugang zu Häusern, Safes etc. unmöglich macht. Im gleichen Gebäude ist auch das Spitex-Zentrum untergebracht und sorgt mit Beratung, Betreuung und Vermietung von Krankenmobilien bei Invaliden, Kranken und körperlich behinderten Personen für Erleichterung.

Die Nacht beginnt am Nachmittag

Den "Tagesbetrieben" gegenüber stehen ein rundes Dutzend Unterhaltungslokale zur Versüssung der Feierabend- und Nachtstunden. Während Frau und Mann sich gemeinsam in der
"F 1"-Bar zwischen Apéro und Schlummertrank treffen, in der "Tonhalla" bis weit in die Nacht hinein das Tanzbein zu Live-Musik schwingen, in der "Fels" oder im "Halli Galli" - wo einmal pro Woche die "Single- und Kontaktparty" Zweisamkeit verspricht - sich von Disco Sound berieseln lassen, sind die anderen Lokale fast ausschliesslich auf männliche Kundschaft ausgerichtet. Das untermauern auch die Namen: "Pin Up", "Vulkano", "Maxim" etc. Dass die mit polizeilichen Arbeitsbewilligungen ausstaffierten Striptease-Tänzerinnen auf den Bühnen der Night-Clubs bereits am Nachmittag ihre Arbeit aufnehmen, entspricht der Nachfrage. Das Einzugsgebiet einsamer, vernachlässigter, ablenkungsbedürftiger oder einfach gwundriger Männer reicht nämlich bis ins benachbarte Ausland, "wobei", so das Zitat eines Nachtclubbetreibers, "auch Churer aus allen sozialen Schichten bei uns Entspannung, Vergnügen und Unterhaltung erhalten". Aber das Innenleben der Rotlichtlokale gehört eben in jenen "Tabu-Bereich", über den kaum gesprochen wird - ausser zwischen dem 3. und 11. Mai: Die "Klibühni - Das Theater" beleuchtet mit verschiedenen Veranstaltungen unter dem Titel "Sex - lust- und leidvolle Betrachtungen über das Geschlecht" genau dieses Thema.
Dass einige der Hoch-Zeiten der einschlägigen Welschdörfli-Lokale - als im Soge des Stierenmarkts oder der Eidgenössischen Schwingfeste zusätzliche "Tänzerinnen" engagiert werden mussten - längst passé sind, sei nicht weiter schlimm. Sicher stünden in Zukunft in Chur wieder Grossanlässe mit viel potentiellem Publikum an, meint der Lokalbetreiber, und: "der Weg in den Ausgang der WK-Soldaten und Rekruten von der Kaserne zu uns ist ja auch nicht weit".

Erholung in der Therme

Nicht viel weiter wäre auch der Weg zur Evangelischen methodistischen "Friedenskirche", die an der St. Margrethenstrasse und somit ebenfalls im Welschdörfli liegt. Man schlendert dabei am Schild einer Massageschule vorbei. Hier kann man jene Praktiken lernen, die einst im Orient entstanden sind und später auch von den Römern übernommen wurden. Und eben diese sind weitgehend Schuld daran, dass Chur überhaupt entstanden ist. Im Jahre 15 v. Chr. liessen sie sich im Welschdörfli nieder. Archäologische Grabungen haben erwiesen, dass sich während der Präsenz der Römer ein durchaus kleinstädtisches Leben entwickelte, derweil auf dem heutigen Altstadtgebiet noch weitgehend Ruhe herrschte. Neben den verschiedenen Häusern stand im Welschdörfli auch eine römische Therme mit vier Heiss- und Warmwasserräumen. Sie bot für die BenützerInnen einen annehmlichen Komfort. Das römische Bad wurde aber nicht nur für die Hygiene aufgesucht. Hier fand die Bevölkerung - vorwiegend die Gilde der Reicheren - ein zusätzliches Angebot an Körperpflege und Entspannung. Die Rücken der "alten Römer" wurden von Sklaven geknetet, Haare schneiden war Aufgabe des Tonsors (sein Laden wurde "Tonstrina" genannt), mit dem Auszupfen unerwünschter Körperhaare beschäftigte sich der Epilator und die Frauen liessen sich mit Eigelb, Kalk und verschiedenen Mixturen ihr Haar aufhellen - weil ihnen die blonden Germaninnen so gut gefielen. In der Therme wurden auch Ehen geschlossen oder man traf sich hier einfach zum Geschäften, Politisieren und Klatschen.

Schmutzfinken

Trotz hoher Badekultur waren die Römer keine saubere Gesellschaft, was der Vorstellung von den kultivierten und wohlhabenden Bürgern, kühnen Architekten und tapferen Soldaten widerspricht. Die Mehrzahl auch der im Welschdörfli lebenden RömerInnen waren Schmutzfinken, hatten weder Klo noch Kanalisation im Haus und mussten sich meist mit kaltem Wasser waschen. Zwar gabs auch öffentliche Toiletten, trotzdem verrichteten die Menschen ihre Notdurft oft gleich auf den Strassen. Speiseresten wurden kurzerhand auf die Erde entsorgt. Manche Häuser verfügten wohl über Abfallgruben in den Küchen, wo oft auch die Toiletten waren. Neben jeder Menge Krankheitserreger in den Lebensmitteln wurde der Körper der Menschen durch unzulängliche Konservierungsmethoden und bleierne Trinkgefässe malträtiert. Aus mangelnder Hygiene, der daraus resultierenden Pest und dem Massensterben ist dereinst sogar die Wiedererrichtung des gespaltenen römischen Imperiums gescheitert.
Die römische Herrschaft in Rätien endete um das Jahr 400. Das Leben hatte sich längst zuvor immer mehr in die Nähe des Hofes verlagert. Im Gebiet "ultra Pontem" blieben in einer nun verstärkt grundherrschaftlichen Umgebung die römischen Elemente und die Tradition erhalten. Fremde Einflüsse drangen weit weniger in die recht abgeschlossene Welt westlich der Plessur als in die zunehmend von Handwerk und Handel bestimmte Siedlung im Stadtinnern. Gegen das Germanische konnte sich hier die romanische Sprache, das "Welsche", viel länger behaupten.