Placidus Spescha – Alpinist und Naturforscher

In Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv Graubünden zeigt das Bündner Natur-Museum bis 2. Februar 2003 unter dem Titel «Sehnsucht nach dem Mittelmeer» einen Querschnitt durch das Lebenswerk des Alpenforschers Placidus Spescha vor dem Hintergrund einer Zeit im Umbruch. Eine Hommage zum 250. Geburtstag eines grossen Bündners.

Text: Heini Hofmann

Unter den Begründern der Alpenforschung kommt dem Disentiser Benediktinerpater Placidus Spescha (1752–1833) nicht zuletzt deshalb besondere Bedeutung zu, weil er, im Gegensatz zu andern Gelehrten jener Zeit, selber ein Sohn der Berge war. Sein Lebenswerk in einer Zeit des Umbruchs gleicht einem Bergkristall: spitzig und kantig, aber dauerhaft und strahlend. Placidus Spescha, geboren am 9. Dezember 1752 in Trun, dem Sitz des Grauen Bundes, ist, neben dem Dichter und
General Johann Gaudenz von Salis-Seewis, wohl die herausragendste Persönlichkeit Graubündens aus der Zeit um 1800. Er war für die Bündner Berge das, was Horace-Bénédicte de Saussure für die Westalpen und Belsazar Hacquet für die Ostalpen, nämlich erfolgreichster Bergsteiger in dieser Frühepoche der Eroberung der Alpen.

Gipfelstürmer
In einer Zeit, da man eben den Glauben an die Bergdrachen überwunden hatte, diese aber noch in manch gelehrtem Werk des Jahrhunderts herumspukten, beschritt Placidus Spescha mutig und eigenwillig neue Wege. Als erster wagte er sich auf die höchsten Gipfel der Surselva, machte Höhenbestimmungen, zeichnete Karten, beschrieb Pflanzen und Tiere und hielt seine Forschungsergebnisse in unzähligen Handschriften fest, mal nüchtern-exakt, mal farbig-poetisch, oft humorvoll oder sarkastisch.
Der Blick von den Gipfeln war neu und für den Bergsteiger verwirrend. Es war schwierig, die Menschen im Flachland vom Gesehenen zu überzeugen. Noch heute rufen die phantastischen Panoramabeschreibungen Zweifel hervor. Hat er tatsächlich vom Rheinwaldhorn aus das Mittelmeer gesehen, oder hat er phantasiert? Die modernen digitalen Panoramen geben keine Antwort; denn noch reicht der digitale Atlas der Schweiz nicht so weit über die Grenzen hinaus …

Revolutionär
Placidus Spescha war ein unkonventioneller, ja revolutionärer Geist in der damals konservativsten Region Graubündens, der Surselva. Während man sich hier gegen das Gedankengut der Aufklärung und der französischen Revolution stemmte, bewunderte er die Franzosen und Napoleon so sehr, dass er diesem eines seiner Werke dedizierte: «Kaiser! Ich widme dir mein Werk, weil es die Urquellen des Rheins beschreibt ... und weil es eines Beschützers der Wahrheit bedarf».
Gross dagegen war seine politische Abneigung gegen den östlichen Nachbarn: «Solange rhätisches Land und Volk bestehet, … zeigt sich kein Fürst oder Potentat, der soviel Schaden diesem Land und Volk zugefügt hat als das Haus Österreich». Das brachte ihm 1799 für achtzehn Monate Deportation ins Exil nach Innsbruck ein.
Im gleichen Jahr wurden im Krieg zwischen Frankreich und Österreich Abtei und Dorf Disentis niedergebrannt. Dabei fiel auch ein Grossteil seiner Schriften und seiner immensen Kristallsammlung, deren erste Exemplare er schon als Hirtenbub Giuli Battesta Spescha
aufgespürt hatte, der Zerstörung anheim. Übrigens: Seine Kartenzeichenkunst wurde von beiden Kriegsparteien beansprucht; dies machte ihn wider Willen zu einer Art «Doppelagent».

Visionär
Als Sohn der Berge war ihm die Abhängigkeit der Bevölkerung von der unbarmherzigen Umwelt ein Begriff. Und er verstand es, auf die praktischen Erfordernisse des Alltags zu antworten. Mit seinen Vorschlägen (die nach den diesjährigen Unwettern im Bündner Oberland besonders aufhorchen lassen), den Lawinen, Erdrutschen und Hochwassern zu begegnen, nahm er manch spätere Entwicklung voraus. Sein energisches Einstehen für einen respektvollen Umgang mit der Natur ist heute noch wegweisend. Zeichen setzte er auch in der Landwirtschaft und in der Jagd.
Die Missernte von 1816 führte zur letzten grossen Hungersnot im Land, wobei sich die schwierige Versorgungslage vom Süden her besonders verheerend auswirkte. Dies forcierte den Ausbau des San Bernardino- und des Splügen-Passes. Dadurch drohte die Surselva ins Abseits zu geraten, weshalb der findige Mönch eine «Seitenstrasse» über den Lukmanier oder die Greina (!) erkundete und dabei frühere Bedenken über Bord warf.
Heute würde man Spescha einen Querdenker nennen. Schon damals befürwortete er im Schulwesen eine Zusammenarbeit über die Konfessionsgrenzen hinweg. Und im Tavetscher Manuskript ging er noch weiter: «Beyde Religionen könnten meines Erachtens leicht zu einer einzigen vereiniget werden, wenn der wahren Menschenliebe und der christlichen Vertragsamkeit Platz gestattet würde, denn beyde Religionsgenossen glauben an den nemlichen Gott und Erlöser».
Viel Ärger provozierte er mit seiner dezidierten Haltung gegenüber dem Pflichtzölibat für katholische Weltgeistliche: «Die Welt hat immer auf die Priester wenn sie kluge, sauber angekleidete, wohl gestaltete, gesunde, liebreiche und junge Mädchen zum Dienste anstellen, einen sehr grossen Verdacht, als wenn ihre Enthaltsamkeit dabei in Gefahr stünde; wohlan, wenn dieses wahr ist, so verschaffe man ihnen die apostolische Freiheit».

Verbittert
Nach dem Krieg, das heisst seit er von Innsbruck zurück war, fiel es dem Querdenker schwer, sich wieder in die Ordnung des Konvents einzufügen. Die Seelsorge stellte er dem rastlosen Forscherdrang hintan. Dennoch blieben etliche Projekte auf der Strecke, so ein Heilbad, ein Armenhaus, Berghütten und – erneut visionär – eine romanische Einheitssprache. Streitigkeiten mit den Vorgesetzten verbitterten ihm den Lebensabend. Seine letzten Worte, als er am 14. August 1833 im Klosterhof in Trun das Zeitliche segnete, sollen gelautet haben: «Ussa dat la baracca ensemen» – «Jetzt fällt die Baracke zusammen» …
Heute, ein Vierteljahrtausend nach seinem Tod, kommt sein geniales, vielseitiges Lebenswerk in einer umfassenden Ausstellung nochmals zur Geltung, vergleichbar dem Eröffnen einer Kristallmine. Die Laudatio findet sich in seinen eigenen Worten: «Was bist, Kristall, in deinem Glanz mit Farbenspiel umgeben? Ich bin sechsseitig, fein und ganz und spitzig ist mein Leben!»

 

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