So viel ist klar: die Hitzewelle trägt zur allgemeinen Verluderung der Kleidersitten bei. Setzen Sie sich eine halbe Stunde in ein Strassencafé und studieren in aller Ruhe, was da angeblich Modisches vorbeischlurft. Es überfällt Sie das kalte Grausen, ohne dass es dabei zur Abkühlung kommt. Kleider machen Leute, heisst es in der Novelle von Gottfried Keller – das war einmal. Was heute modisch korrekt ist, lässt sich kaum mehr erahnen. Einfacher war es, als man in den Politikern noch ein Vorbild sah. Das war früher. Obwohl es in der Geschäftsordnung des Grossen Rates heisst, dass die Mitglieder an den Sitzungen korrekte Kleidung tragen müssen, welche die Würde des Parlaments respektiert, sagt die Kleidung nichts mehr über den Täter

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Stefan Bühler


Sittenbild

aus. Seit auch die Sozialdemokraten gemerkt haben, dass es einen Unterschied zwischen Heiland-Sandalen und Prada gibt und ein Krawattenknopf vor einem dicken Hals bewahrt, ist der Wiedererkennungswert gesunken.
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit gab es die Quizfrage, was Ruth Dreifuss mit ihren alten Kleidern macht. Die richtige Antwort lautete: sie trägt sie. Heute muss das wenige, das man zum Abdecken benötigt, mindestens so alt sein wie der Träger selbst.
Eine gültige Formel lautet: Je zahlreicher die Jahrringe, desto kürzer der Rock. Das war früher nicht so, als in den Sechzigerjahren die Strumpfbandgürtel verschwanden und die Feinstrumpfhosen die Schamgrenze ver- schoben. Mary Quant wurde mit ihrem ersten Minirock zum Schocker für die ältere Generation. Heute schockt die ältere Generation die Jungen. Wenn einer noch immer mit weissen Socken und Turnschuhen daherkommt, dann kann auch sein weisser Stock nicht weit sein.
Sicher, gewisse Modetrends dürfen Alte und Junge mitmachen. Ganz klar, für die Damen sind die Flipflops der grosse Renner, seit man Julia Roberts und Winona Ryder damit gesehen hat. Letztere hat sie vom Therapeuten geschenkt bekommen, damit sie nichts mehr in den Schuhen verstecken und klauen kann. Besonders einschneidende Erlebnisse haben die Models auf den Plakaten mit Strings von Sloggi. Dann doch lieber Flipflops, die auch einschneiden, aber nur an den Zehen.
Früher sorgte ein tiefer Ausschnitt am Kleid einer Frau oft für einen tiefen Einschnitt im Leben eines Mannes. Heute braucht man den Ausschnitt, um Platz zu schaffen für die Tatoos. Beliebt sind jene mit Tiersymbolen. Da gibt es Drachen, die sich auf straffer Haut entfalten. Da gibt es aber auch Haut, die sich schon in Falten gelegt hat. Aus dem einst stolzen Drachen wird unweigerlich ein afrikanischer Schrumpfkopf. Wobei man dann nicht mehr weit entfernt ist vom Piercing, an welches man auf Schritt und Tritt schmerzlich erinnert wird. Wie die Schrumpfköpfe kommt diese Mode aus Afrika, wo neben dem Zeigfinger auch Holz und Knochen durch die Nase gebohrt wurden. Zivilisiertes Piercen geht in Richtung Bauchnabel und Brustwarzen. Man sah das Bauchnabelpiercing das erste Mal in Hawaii am Ende des 2. Weltkrieges, und Königin Victoria hatte angeblich gepiercte Brustwarzen. Wer heute einen gepiercten Nabel hat, muss auch Bauch zeigen. Meist mit Querstreifen (wer frisst denn heute noch Querstreifen?) am T-Shirt über den Pirellis. Wegschauen muss man selbst.

Stefan Bühler

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