Das geduldigste Publikum findet man an den Beerdigungen. Die Friedhofanlage beim Fürstenwald versetzt einen schon in Trauer, bevor man weiss, wer gerade zu Grabe getragen wird. Vergessen wurden ja nicht nur die Parkplätze, die Konstrukteure haben auch nicht daran gedacht, dass es für die Lebenden noch Jahreszeiten gibt. Ähnlich wie bei den Überlebensübungen im Militär lässt man alle warten, schutzlos ausgeliefert entweder der prallen Sonne oder dem Regen und Schneefall. Eine Mikrophonanlage wird nicht eingesetzt. Zu guter Letzt drängt die Hälfte der Trauergemeinde in einen viel zu kleinen Betonsilon, die andere geht nach Hause, weil sie keinen Platz mehr findet.

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Stefan Bühler


Ein letzter Gruss

So weit der aktuelle Stand in Chur. Seit dem 19. Jahrhundert werden die Friedhöfe an die Ränder der Städte verlegt, meist weitab von der nächsten Kirche. Der schöne Anblick, wie ihn etwa das Oratorio Sant’Anna in Poschiavo bietet, ist selten geworden. In der vorgebauten Loggia sind seit genau 100 Jahren die Schädel der Verstorbenen aufgeschichtet, eine äusserst rationelle Bestattungsart.
Beerdigungen in Chur können wie gesagt auf ein sehr geduldiges Publikum zählen. Als der Churer Pianist Fritz Trippel einst in der Kathedrale einen Beatles-Song zum Besten gab, reklamierte keiner aus der Gemeinde, nur die bischöfliche Verwaltung war nicht gerade erfreut. Bei einer anderen Abdankung in der Regulakirche hatte die aufgebotene Ländlerkapelle nicht mit einem Wettersturz gerechnet, aus der gefrorenen Klarinette entwichen nur schrille Pfiffe. Da wischte sich mancher eine zusätzliche Träne aus den Augen. Geduld hatte auch die versammelte Trauergemeinde in der Kathedrale, die eine halbe Stunde lang still und geduldig der Dinge harrte, die nicht kommen sollten. Der Pfarrer hatte die Abdankung schlichtweg vergessen und war gar nicht erst gekommen.
Das Daelwijck Krematorium in der Stadt Utrecht bietet Familienmitgliedern und Freunden die Möglichkeit, die Beerdigung ihrer Verwandten im Internet zu betrachten. Zwei Webcams übertragen die Abdankung live im Internet. Kein Sonnenstich, keine Erfrierungen, keine Pfeifen an der Orgel trüben da das Bild der Abdankung. Allerdings fehlt auch das gesellschaftliche Erlebnis einer Beerdigung. Edi Capadrutt hat auch ohne Internet zu seinen Lebzeiten keine Beerdigung in Chur verpasst, ob er den Verstorbenen gekannt hat oder nicht. Und nach dem Leichenmahl ist er auch im hohen Pensionsalter in der Felsenbar aufgetaucht, um zum Abschluss eines erfüllten Tages noch etwas das Tanzbein zu schwingen.
Viele Churer wissen gar nicht, weshalb der Platz in der Altstadt Arcas heisst. Das kommt von Armin Caprez, Sargmacher, der viele Geschichten erzählen könnte. Ihm ist nie passiert, was einem Bestattungsunternehmer kürzlich in Deutschland fast die Lizenz kostete: Diesem war das Handy in den Sarg gerutscht, das dann auch prompt während der Abdankung zu klingeln begann.
Als nach einem Erdrutsch in einer Münstertaler Gemeinde ein Teil des Friedhofes weggerissen wurde, fielen die zahlreichen halben Särge auf. Des Rätsels Lösung: Der Friedhofgärtner hatte Platzprobleme und fand eine eigene Lösung: Sobald die Trauergemeinde in der Kirche war, halbierte er die Särge mitsamt Leiche und schichtete sie aufeinander. Der ehemalige Bündner Justizminister Jakob Schutz liess Gnade vor Recht ergehen, der Fall kam nie an die Öffentlichkeit.
Ohne Beinhaus oder Münstertaler Lösung, heute haben die Toten genug Platz, Mühe machen jetzt die Lebenden.

Stefan Bühler

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