SMALLTALK

«Wenn ich einen Hirsch sehe, ist die Woche gerettet»

René Bonderer spricht mit Begeisterung von seiner Arbeit. Er habe seinen Traumberuf gefunden, sagt der 40-jährige Verkehrsinstruktor
der Stadtpolizei Chur. Seit 11 Jahren macht René Bonderer Kinder und
Jugendliche für den Strassenverkehr sicher.
«Es gibt einen Spruch von Mark Twain: Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu sein. Das ist mein Leitspruch. Daran halte ich mich.
Ich bin ein sehr ausgeglichener Mensch. Ich stehe jeden Morgen um halb sechs Uhr topmotiviert auf, egal ob Werktag oder Sonntag. Ich bin einfach ein Frühaufsteher. Ich treibe viel Sport, zweimal pro Woche Krafttraining, dreimal pro Woche Ausdauertraining.
Ob Montag oder Freitag, das berührt mich nicht, es ist doch jeder Tag ein schöner Tag.
Wie ich Polizist wurde? Das kam durch Zufall. Ich war auf einer Bergtour und am Abend kam ich in der SAC-Hütte mit einem anderen Berggänger bei einem Glas Wein ins Gespräch. Er fragte, was ich so mache. Ich war damals 22 Jahre alt und jobbte bei der APG. Davor hatte ich die Schreinerlehre gemacht, konnte aber wegen einer Rückenoperation nicht mehr auf dem Beruf arbeiten.
Der andere war Polizist und sagte dann, ob ich mich nicht bei der Polizei melden wolle. Ich winkte ab, das sei wohl nicht mein Metier. Er insistierte und meinte, das würde aber passen und sandte mir alle Unterlagen zu. Ich füllte sie aus und wurde am 1. Juni 1988 eingestellt. Eineinhalb Jahre arbeitete ich als Hilfspolizist. Danach gab man mir die Möglichkeit, in Neuenburg die Polizeischule zu machen, die ich 1990 begann. Nach der Schule machte ich Frontdienst, das heisst verkehrs- und sicherheitspolizeiliche Aufgaben.

Zufällig zum Traumjob
Am 1. Okt. 1993 wechselte ich aufgrund eines Unfalls – ich musste den Rücken zum zweiten Mal operieren – in die Verkehrsinstruktion. Ich kam also absolut zufällig zu meinem Traumjob. Die Stelle war vier Monate lang ausgeschrieben und blieb unbesetzt. Man fragte mich an, ob ich das nicht probieren wolle. Ich zögerte zuerst, wenn man jung ist, braucht man doch «action».

Ich arbeitete mich ein und stellte nach kurzer Zeit fest, dass diese Stelle voll und ganz auf mich zugeschnitten ist. Das ist wirklich mein Gebiet, auf dem ich mich sehr wohl fühle und ich denke, dass ich sehr viel bewegen kann. Auch, weil die Kinder mich gut akzeptieren.
Die Verkehrsinstruktion beginnt immer im August, der Schwerpunkt liegt auf dem Kindergarten und der 1. Klasse. Wir versuchen bis zu den Herbstferien die 34 Kindergärten zu instruieren und alle 1. Klassen zu besuchen.
Am Morgen machen wir im Stübli eine Lektion, danach gehen wir nach draussen und schauen den Schulweg an. Vor den Sommerferien wiederholen wir die Lektionen.

Beseelter Stoppli
Im Stübli nehmen wir eine einfache Lektion mit Globi oder mit dem Stoppli durch. Der Stoppli ist ein Kobold mit roten Haaren und mit ihm erzählen wir dann eine Bildergeschichte. Wir hängen das immer an Stoppli auf, er hat gesagt, dass… – das kommt bei den Kindern am besten an. So können sich die Kinder identifizieren. Sie glauben an Globi oder an Stoppli. Für sie sind die beseelt; ich sehe das auch bei mir zuhause, ich habe selber drei Kinder.
Nach dem Kindergarten und der 1. Klasse geht’s weiter wie ein roter Faden. In der zweiten nehmen wir zum Beispiel Beleuchtung durch. In der 3. Klasse ist die Veloausrüstung Thema, in der 4. Klasse kommen die ersten Signale dran: wie funktioniert ein Kreisel, wer hat Vortritt und so weiter. Die 3. und 4. Klassen kommen dann im Mai noch in den Verkehrsgarten im Hallenstadion.

Kein Megaflopp
Ab diesem Jahr zum ersten Mal und in der Deutschschweiz einmalig besuchen wir jetzt die Gewerbeschulen. Da zeigen wir eine PowerPoint-Präsentation zum Thema Alkohol im Strassenverkehr, darin ist auch das Thema Rasen und Drogen verpackt. Die Präsentation zeigen wir allen 18-Jährigen. Das sind gesamthaft rund 1600 Schülerinnen und Schüler.
Obwohl ich gut vorbereitet war, konnte ich in der Nacht, bevor wir in die Berufsschule gingen, kaum schlafen. Ich dachte: Jesses Maria, wenn das nur gut geht und keinen Megaflopp gibt! Dann wäre die ganze Arbeit für die Katz. Wir hatten wirklich keine Ahnung, wo wir stehen. Aber dann, als alle klatschten, waren wir sehr erleichtert.
Wenn ich nicht in den Schulen bin, bin ich am Vorbereiten und während den Sommerferien bin ich im normalen Grunddienst eingetragen, da machen wir die Arbeit, die alle anderen Polizisten auch machen: Verkehrsunfälle, Streifenwagen fahren, Kontrollgänge. Genau das ist eben wichtig, davon können wir im Unterricht profitieren, von diesen konkreten Fällen.
Ich bin sehr motiviert und ich freue mich, dass ich weitermachen kann. Die Unfallstatistik spricht auch für uns: 1975–77 hatten wir in der Stadt Chur zwischen 70 und 75 Kinderunfällen. In den letzten Jahren kamen wir auf einen Schnitt von acht bis neun Unfällen pro Jahr! Und die Kinderzahlen haben enorm zugenommen. Das schaue ich auch als ganz kleinen Verdienst unserer Arbeit an.

Kraftort Natur
Jagd und Natur sind meine grossen Leidenschaften. Das ist für mich etwas vom Wichtigsten: dass ich dort meine Ruhe habe. Ich habe ja sehr viel mit Leuten zu tun, immer einen Haufen Kinder um mich herum. Zuhause geht’s weiter, meine Kinder sind 9, 11 und 18 Jahre alt. Dadurch brauche ich einfach einen Ausgleich.
Die Natur ist der Ort, an dem ich Kraft tanke. Das würde ich für nichts in der Welt abtreten. Das ist das, was ich brauche, dafür lebe ich. Wenn ich irgendwo einen Birkhahn oder einen Hirsch sehe und ihn eine halbe Stunde beobachten kann, dann ist für mich die ganze Woche gerettet. Das tönt jetzt vielleicht wahnsinnig, aber das ist so.
Ich ging eigentlich schon immer z’Berg. Meine Eltern führten zehn Jahre lang das Restaurant auf dem Kunkelspass. Ich fuhr von da oben in die Stifti nach Trin Mulin, am Morgen um halb sechs stand ich auf, und am Abend ging ich sehr oft noch auf den Calanda oder in die Ringelspitz-Hütte.

Zufriedener Einzelgänger
In den Bergen bin ich ein extremer Einzelgänger und dadurch vermutlich auch etwas eigen geworden. Aber ich habe den ganzen Tag so viele Leute um mich herum, da brauche ich das einfach. Viele Menschen können das gar nicht begreifen, diese totalen Gegensätze.
Die zehn Jahre Kunkels haben mich sicher geprägt, ich gehe auch heute noch sehr oft auf den Kunkels. Dann nehme ich meinen Feldstecher, steige noch schnell auf den Taminser Calanda und schaue mir den Sonnenuntergang an. Alle sind dann schon wieder zuhause. Kein Mensch mehr da. Alle weg. Eine Ruhe. Das ist für mich das Schönste.»

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