| Sie hat einst Leid und Verwüstung in die Stadt gebracht,an ihr nahm man die erste grosse Flusskorrektur in Graubünden
 vor und wies sie dadurch in die Schranken, die Plessur.
 Seither hat sie sich beruhigt, und direkt an ihren Gestaden ist
 idyllischer Wohnraum entstanden.
 Nicht von ungefähr haben sich vor rund 13000 Jahren Steinzeitmenschen 
        auf ihren Jagdzügen ausgerechnet oben am Hofhügel niedergelassen. 
        Von hier aus konnten sie das weite Tal überblicken, Wild ausfindig 
        machen, und sie waren sicher vor Rüfen, Erdrutschen und Hochwasser. 
        Denn nur etwa 200m links unterhalb ihrer Hütten ergoss sich mal zahm, 
        mal ungestüm der wilde Bach aus dem Hinterland in die Talebene. Unaufhörlich 
        Geröll und Sand mitführend, bildete sich im Laufe der Zeit ein 
        riesiger Schuttkegel, auf dem ab Ankunft der Römer um 15 v.Chr. Chur 
        gebaut. Es dauerte aber noch Jahrhunderte, bis auch an den Gestaden der 
        Plessur gefahrloses Wohnen möglich wurde. Heute tönt das so: «Die Idylle und das ununterbrochene Rauschen 
        des Wassers macht unsere Wohnlage einzigartig. Wenn wir nicht müssen, 
        werden wir nie mehr von hier wegziehen». Dies sagt Edith Brunner, 
        aufgewachsen an der Limmat in Zürich und seit 14 Jahren im Familienverband 
        an der Unteren Plessurstrasse wohnhaft. Wie die Gärten der links 
        und rechts liegenden Häuser ist auch der ihre üppig bewachsen 
        mit Gemüse, Beeren und Obstbäumen und reicht bis ans Flussufer. 
        Dort rauscht in sicherem Abstand das Wasser vorbei, das vor über 
        200 Jahren durch massive Wuhrbauten gebändigt wurde.
 In die Schranken gewiesen
 Vor dieser ersten grossen Flusskorrektur in Graubünden in den Jahren 
        1763 bis 1765, verwüstete die hoch gehende Plessur in fast regelmässigen 
        Abständen die ufernahen Stadtquartiere und die weiter unten liegenden 
        Güter und Ländereien. Zwischen 1626 und 1747 fiel die Obertor-Brücke 
        samt verschiedenen Gebäuden vier Mal dem Hochwasser zum Opfer. Besonders 
        verheerend wütete die Plessur im Juni 1762. Ausser dem heute noch 
        stehenden Kettbrückli, riss das Wasser sämtliche Übergänge 
        weg, Wuhre brachen ein, Ställe wurden weggeschwemmt, unzählige 
        Gebäude erlitten wegen Unterspülungen «Totalschaden», 
        Gemüse-, Obst- und Weingärten versanken in Schlamm und Schutt 
        und auf den «flachen Wiesen» weiter unten blieben gewaltige 
        Geschiebemassen liegen. Unter den Fittichen des Churer Wuhrdirektoriums 
        begann man im Februar 1764 die Plessur ab der heutigen Segantinibrücke 
        zu begradigen. Das Flussbett wurde vertieft und der «Kanal» 
        beidseits mit Wuhren gesichert. Dadurch erreichte man eine grössere 
        Fliessgeschwindigkeit und das mitgeführte Geschiebe konnte ungehindert 
        dem Rhein übergeben werden.
 «Loblied» auf die PlessurAls im September 1868 unter einem Gewittersturm der Rhein anschwoll und 
        Rossboden, Obere und Untere Au mit Schlamm und Kies bedeckte, stieg auch 
        die Plessur gefährlich an. Doch, so ein Beschrieb des Zeitgenossen 
        Johann Arpagaus, habe sie bei diesem Schauspiel mit einer stummen Rolle 
        vorlieb genommen, weil Chur der wilden Bergtochter die jetzige enge und 
        gerade Bahn zugewiesen habe. «Aus der Barbarin», so Arpagaus 
        weiter, «ist, einzelne Seitensprünge abgerechnet, eine anmutige 
        und diensteifrige Nachbarin geworden. Ohne sie wäre Chur eine Grazie 
        ärmer». Das Arpagaus’sche Lob geht noch weiter: «Warum 
        die dortige Welt und besonders die Damenwelt so selten lustwandelt an 
        den Ufern der Plessur, weiss ich nicht. Dabei findet sich von der Oberthorerbrücke 
        bis zur Einmündung reiche Weide für Kopf und Herz».
 Die «Seelendoktorin»Keine heutige Anwohnerschaft an der Plessur wird dieser Huldigung widersprechen. 
        Auch der aus Bern stammende Markus Muralt nicht. Er wohnt seit drei Jahren 
        mit seiner Familie am Wasser und schwärmt von der Ufernähe. 
        «Unser Schlafzimmer liegt direkt über der Plessur und das monotone 
        Fliessgeräusch wirkt unheimlich beruhigend und richtig einlullend». 
        Wie ihm das Rauschen beim Einschlafen fehle, merke er immer dann, wenn 
        er in den Ferien oder mal wieder in Bern sei. Noch in eindrücklicher 
        Erinnerung hat Markus Muralt die nach einem Gewitter hochgehende Plessur, 
        als er 2001 das neue Zuhause vor dem Bezug besichtigen wollte. «Die 
        Feuerwehr war eben dabei, die damaligen Bewohner aus dem Haus zu evakuieren, 
        weil ein Stück der Mauer vom Wasser weggerissen wurde und ein Teil 
        des Gartens in den Fluten verschwand».
 Ein Augenzeuge der vor drei Jahren schlecht gelaunten Plessur ist auch 
        Chedly Lassoued-Cathomas. Seit 1990 wohnt die vierköpfige Familie 
        an der Oberen Plessurstrasse. Chedly, beruflich an der Hauptkasse Nationalbank 
        in der GKB tätig, sorgt nebenamtlich zusammen mit seiner Frau Irma 
        für das 14 Wohnungen aufweisende Gebäude. «Damals waren 
        fast alle Plessursträssler auf Trab und haben mit Argusaugen das 
        wilde Wasser beobachtet». Seither sei es ruhig geworden, ab und 
        zu rausche es ein wenig lauter, besonders wenn Schneeschmelze sei. Stolz 
        ist der Freizeit-Hausabwart auf die Flussufer-Terrasse, die er mit einem 
        japanischen Birnbaum, einem Aprikosen- und einem Zwetschgenbaum sowie 
        Reben und Rosen verschönert hat. Ein gedeckter Platz mit Tisch, Bänken 
        und Gemeinschaftsgrill steht den Mietern jederzeit zur Verfügung. 
        «Den Sommer durch steigen hier unten praktisch jedes Wochenende 
        Haus-Partys, die oft bis weit nach Mitternacht dauern». Und wenn 
        Chedly Lassoued Ärger oder Stress hat, setzte er sich unter den grossen 
        Kirschbaum am Ufer. «Die Plessur mit ihrem beruhigenden Geräusch», 
        sagt er, «ist die beste Seelendoktorin».
 Dass die Plessurgestade äusserst fruchtbar sind, zeigt sich am Beispiel 
        des Gemüsegarten bei der Villa Brunnengarten. «Tomaten, Rhabarber, 
        Mangold, Bohnen, Rüebli, Kohl etc. werden von der Tochter eines ehemaligen 
        Hausbewohners gepflegt, die daran völlig den Narren gefressen hat», 
        erklärt der «Schlossbesitzer» und Architekt Enrico Morini. 
        Auch er schwärmt vom beruhigenden Fliessgewässer entlang des 
        lauschigen Gartens. Als Erbauer verschiedener Häuser am Ufer kennt 
        er die Plessur aber auch berufshalber. In einem der Häuser lebe eine 
        Frau in einer Eckwohnung, die ein Stück weit direkt über die 
        Plessur hängt. «Jedes Mal, wenn ich sie treffe, schwärmt 
        sie in höchsten Tönen über die geniale Lage und das Wasserrauschen 
        direkt unter ihr». Entsprechend der Baulinie dürfe man direkt 
        ans Wasser bauen, so Architekt Morini. «Für eine sichere Uferverbauung 
        ist man selbst verantwortlich und muss der Stadt, die kein Risiko übernimmt, 
        den Sicherheitsnachweis erbringen».
 Bedrohte IdylleFür das städtische Bauamt ist die Plessur ein ständig wiederkehrendes 
        Thema. «Jedes Jahr einmal wird die Plessur auf Stadtgebiet auf einer 
        Inspektionstour begangen», erklärt Daniel Schneeberger, Leiter 
        Werkbetriebe beim Tiefbau- und Vermessungsamt der Stadt Chur. Allfällige 
        Mängel, wie zum Beispiel an Ufermauern oder Schäden durch Unterspülung, 
        würden möglichst schnell behoben. Jüngstes Beispiel sind 
        die vor wenigen Monaten oberhalb der Obertor-Brücke vorgenommenen 
        Massnahmen, die ein weiteres Ausschwemmen des Flussbettes verhindern.
 Ein weiteres Thema dürfte die Stadt in nächster Zeit zusätzlich 
        beschäftigen. Denn an der Oberen Plessurstrasse verbindet seit wenigen 
        Monaten nicht nur das Element Wasser die Bewohnerschaft. Auf der anderen 
        Uferseite, in der Gewerbezone, zeugen hochaufragende Profilstangen von 
        grossen Bauvorhaben. Das freut die am rechten Ufer keinesfalls. «Um 
        dies zu verhindern», so ein Anwohner, «haben so ziemlich alle 
        Betroffenen Einsprache dagegen erhoben». Sie wollen gegen das Projekt 
        kämpfen, weil ihnen dadurch ein weit früherer Sonnenuntergang 
        als bis anhin beschert und die Idylle und Wohnqualität am Wasser 
        stark beeinträchtigt würde.
 
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